Das Geheimnis der Totenmagd
zum Schutz gegen die Ausdünstungen zu tragen pflegten. Die schauerliche Schar vollführte einen gespenstischen Reigentanz um die Gräber. In der Mitte des Kreises stand eine Gestalt, die mit dem blanken Totenschädel und der weiten blutroten Kutte aussah wie der leibhaftige Tod. In den Händen hielt der Knochenmann einen brennenden Kienspan, den er nun einem der Geister übergab. Die unheimlichen Reigentänzer reichten das glimmende Holzstück im Kreis herum, bis es schließlich in den Händen eines der Vermummten erlosch. Dieser stieß einen gellenden Schrei aus und warf sich vor dem Gevatter auf den Boden.
»Gütiger Gott, steh mir bei«, flüsterte der Totengräber entsetzt. Hat jetzt etwa mein letztes Stündlein geschlagen? Ihm war es, als täte sich die Erde unter ihm auf und wollte ihn verschlingen. Ein grässlicher Gedanke erfasste ihn: Vielleicht hatten sich die Geister all jener Toten, die er jemals in der Friedhofserde vergraben hatte, gegen ihn verschworen und trachteten danach, ihn in ihr Totenreich hinabzuziehen?
»Nein, das darf nicht sein«, stammelte er tonlos. Er machte kehrt und flüchtete in wilder Panik in seine Behausung, wo er in Windeseile Fenster und Türen verriegelte. Vor lauter Schreck war er schlagartig nüchtern geworden. Zitternd griff er nach dem fast leeren Weinkrug, kippte den kümmerlichen Rest in seinen Trinkbecher und stürzte ihn in einem Zug hinunter. Dann nahm er den Rosenkranz seiner verstorbenen Frau, der an der Wand über dem einfachen Holzkreuz hing, und umklammerte ihn mit bebenden Händen. Er warf sich auf die Knie und stammelte in tiefster Bedrängnis, während ihm die Tränen über die eingefallenen Wangen strömten, die Worte eines Gebetes:
»Der Herr ist mein Hirte,
Mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
Und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
Um seines Namens willen.
Und ob ich wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück …«
Es war das gleiche Gebet, welches er seinerzeit auch am Totenlager seiner Frau gebetet hatte, und überdies eines der wenigen, die er kannte. Immer noch vor Angst schlotternd, flehte er zusätzlich noch die Jungfrau Maria um Gnade an.
»Heilige Muttergottes, steh mir bei!«, murmelte er mit tränenerstickter Stimme. »Bewahre mich doch vor den bösen Totengeistern. Ich gelobe dir auch, künftig dem Trunke abzuschwören, jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen und eine Kerze für die armen Seelen zu stiften, wenn du mich nur vor diesen Unholden erretten mögest.«
König Tod
Weißt du, bereits als junger Mann habe ich erkennen müssen, wie mächtig der Tod ist. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie damals in Frankfurt genau wie im übrigen Land die Pest ausbrach. Als an jenem drückend schwülen Sommermorgen im Juni 1507 auf einmal die Sturmglocke auf dem Pfarrturm von St. Bartholomäus erklang, weilte ich gerade bei Verwandten auf dem Rahmhof. Nach und nach fielen auch die anderen Kirchenglocken ein, weithin schallte das vielstimmige Geläut. Auf den Stadttürmen wurden schwarze Fahnen gehisst, und der Turmtrompeter verkündete zur achten Stunde mit bebender Stimme vom Rathausturm am Römer die schauerliche Nachricht.
»Hört ihr Leut und lasst euch sagen: Der schwarze Tod hat Einzug unter uns gehalten. Gott sei uns allen gnädig!«
Dann blies er in sein Instrument und wiederholte die schreckliche Hiobsbotschaft noch zweimal, während unten das Weinen und Wehklagen der Frankfurter Stadtbürger immer lauter wurde.
Die Seuche breitete sich von den flussnahen Bezirken rasend schnell über die ganze Stadt aus. Am Abend war das im Jahre 1492 errichtete Pestilenzhaus am Klapperfeld bereits bis unters Dach mit Menschen gefüllt.
Halb wahnsinnig vor Angst irrte ich durch die Gassen und vernahm aus den Häusern gellende Schmerzensschreie. Unerträgliche Schwüle herrschte allenthalben in der Stadt, die Luft stand förmlich zwischen den engen Häuserschluchten, und nicht der geringste Windhauch brachte Abkühlung. Mir lief der Schweiß in Strömen über das Gesicht. Ich suchte eine Schenke auf, um mit ein paar Krügen kühlem Bier meinen Durst zu stillen und die Furcht zu betäuben. Dort kam ich neben einem jungen Medicus zu sitzen, der so bleich und ausgezehrt wirkte wie ein Geist. Ich spendierte ihm eine Maß, und wir kamen miteinander ins Gespräch.
Unentwegt werde er zu Kranken gerufen, klagte er, denen ohnehin nicht mehr zu
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