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Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
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behilflich waren. Seine Schilderungen beeindruckten mich derart, dass ich bald darauf ebenfalls der Bruderschaft beitrat.
    In einer blutroten Kutte folgte ich den übervollen Leichenwagen und half den Pestknechten beim Aufladen der Leichen. Der Gestank, der von den Toten ausging, war so infernalisch, dass uns die Gesichtsmasken nicht davor schützen konnten. Wir verscharrten die Pesttoten in Massengräbern, was gar nicht so einfach war. Denn der Frankfurter Peterskirchhof platzte seit der großen Pest förmlich aus allen Nähten. Früher bestattete Leichen mussten ausgegraben werden, um Platz für die vielen Pesttoten zu schaffen. Die Schädel und Knochen aus den alten Gräbern schichteten wir an den Wegrändern auf, was einen schauerlichen Anblick bot. Damit nicht genug, befanden sich nun auch überall in der Stadt Schautafeln und Straßenaltäre, auf denen verfaulende Körper und detailgetreue Abbildungen von Verwesung bildlich dargestellt waren.
    Man konnte sich nicht wehren gegen den Tod. Keiner konnte sich wehren, alle mussten sterben. Der Tod war der große Gleichmacher. Gegen ihn war kein Kraut gewachsen, und es half auch kein Beten.
    In jener düsteren Zeit hatte ich meine ersten Visionen: König Tod, gekleidet in ein purpurfarbenes Herrschergewand, ausgestattet mit Zepter und Krone, thronte auf einem mächtigen Berg von Pesttoten und bleckte triumphierend die Zähne. In einer unendlich langen Prozession zogen seine Untertanen an ihm vorbei und erwiesen ihm die Ehre. Könige, Fürsten, Kardinäle und Päpste beugten ihre Häupter vor dem Allmächtigen und küssten den Saum seines Gewandes. Ich reihte mich ein in seinen Hofstaat und wartete geduldig, bis ich an der Reihe war. Als ich endlich vor dem Erhabenen stand, schlotterten mir die Knie. Ich warf mich auf den Boden und küsste den Saum seines Umhangs, wie es die anderen taten. Doch das genügte mir nicht. Tollkühn ergriff ich seine knöcherne Hand, die auf seinem Schoß ruhte, und bedeckte sie mit Küssen, während ich stammelte: »Mein Leben gehört Euch, mein König!«
    Er blickte mich eindringlich aus seinen leeren Augenhöhlen an, legte mir sodann seine Knochenhand auf die Schulter und antwortete mit einer Stimme, die aus den Tiefen einer Gruft zu kommen schien: »So sei es, mein tapferer Recke!«
    Ich weinte vor Glück und vor Ergriffenheit. König Tod hatte mich zu seinem Ritter geschlagen. Endlich hatte ich meine wahre Bestimmung gefunden.
    Seit diesem Augenblick wurde mir der Gevatter zu einem Vertrauten, mit dem ich stumme Zwiesprache hielt. Er wurde mein ständiger Begleiter, führte mich an der Hand von Leichenstapel zu Leichenstapel.
    Ich kannte ihn persönlich, nannte ihn Gevatter, wusste, wie er aussah. Längst war er kein anonymes Wesen mehr, er war vorstellbar, sichtbar und greifbar und schritt einher wie ein König.
    »Unter Hunderten ist nicht einer, der mir vorbereitet entgegeneilt«, klagte er. »Wohl geschieht denen, die nicht uneinsichtig und unverständig sterben. Eitle Ehren, Wohlbefinden des Leibes, vergängliche Liebe und das habgierige Suchen nach des Lebens Notdurft blenden die Menge. Willst du aber dieser Jämmerlichkeit entgehen, so folge meiner Lehre. Siehe, mein Anblick ist nichts anderes als die getreue Hilfe deiner armen Seele, die so sehr nach mir ruft, dass du nicht nur alle Angst verlierst, sondern sogar meiner harrest.«
    Und ich harrte seiner. Rechnete ständig damit, mich bei den Pestleichen anzustecken, doch es geschah nicht.
    *
    Mitten in den Wirren der Pest erreichte mich eine Nachricht meiner Mutter, die mir mitteilte, dass mein Vater und meine beiden Brüder an der Seuche gestorben seien, und mich verzweifelt bat, nach Hause zurückzukehren. Umgehend packte ich das Nötigste zusammen und machte mich auf die Reise in den Westerwald.
    Obwohl ich in der glücklichen Lage war, über ein gutes Reitpferd zu verfügen, und nicht wie die einfachen Reisenden gezwungen war, zu Fuß zu gehen, war ich tagelang unterwegs. Überall stieß ich auf Menschen, die, vor Todesangst schier wahnsinnig, in Panik vor der Seuche flüchteten. Die einen flohen aus den Städten aufs platte Land, die anderen vom Land in die Stadt. Die Angst vor Ansteckung hatte sie herzlos und stumpf gemacht. Eltern ließen ihre kranken Kinder im Stich, Frauen liefen ihren kranken Männern davon und Männer ihren sterbenden Frauen. Reiche Bürger und Adelige flüchteten vor der Pest auf ihre Landsitze im Taunus. Doch auf dem Land war das Sterben nicht

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