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Das Geheimnis der Totenmagd

Das Geheimnis der Totenmagd

Titel: Das Geheimnis der Totenmagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Neeb
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minder groß wie in den Städten. Die wenigen Überlebenden erstarrten in Apathie, versorgten das Vieh nicht mehr und brachten keine Ernte ein. Es war der Wahnsinn der Hoffnungslosigkeit, der die Überlebenden lähmte.
    König Tod galoppierte durch die Länder wie ein fliegender Reiter. Er zog auch mit denen, die vor ihm flüchteten, löschte hier ein ganzes Dorf aus und ließ dort ein anderes ganz unversehrt.
    Immer wieder begegneten mir auch Büßerscharen, die in zerfetzte Lumpen gehüllt, abgemagert bis auf die Knochen, unentwegt der Selbstgeißelung frönten. Beim Anblick ihrer blutenden Wunden überkam mich eine seltsame Erregung, und die düsteren Prozessionen faszinierten mich. Glaube mir, wäre ich nicht meiner Mutter gegenüber in der Pflicht gewesen, so hätte ich mich ihnen auf der Stelle angeschlossen.

3
    Heinrich Sahl erwachte am Morgen mit heftigen Kopfschmerzen und fühlte sich derart gerädert, dass er den Tag am liebsten auf dem Strohsack verbracht hätte. Doch heute war Allerseelen, da kamen viele Leute auf den Friedhof, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken. Von früh bis spät wurden in der Peterskirche Totenmessen abgehalten, und Pfarrer Juch würde den Kirchhof ausgiebig mit Weihwasser besprengen und Gebete sprechen. Selbstverständlich erwartete sein gestrenger Vorgesetzter von ihm, dass der Gottesacker am heutigen Gedenktag in einwandfreiem Zustand war. Stöhnend richtete sich Heinrich langsam auf und begann, sich anzukleiden. Sein schwarzer Kapuzenmantel war immer noch klamm vom gestrigen Regen. Während er mit zittrigen Händen einen Becher Sauermilch trank, um seinen rebellierenden Magen zu besänftigen, kamen ihm wieder die grauenhaften Ereignisse der vergangenen Nacht in den Sinn, und ihn überfiel ein Schaudern. Eigentlich war ihm ja die Angst vor Geistern und Gespenstern fremd, derlei Empfindlichkeiten konnte er sich bei seinem Beruf auch gar nicht leisten. Ein Totengräber, der sich vor Geistern fürchtet, das ist ja wie ein Metzger, der kein Blut sehen kann , dachte er grimmig. Er musste dem Trunke abschwören! Also nur noch Milch und Wasser – zumindest fürs Erste , raunte er seinem inneren Widersacher zu, den es schon jetzt nach einem ersten Schoppen gelüstete.
    Nein, er wird nicht zum Weinhändler rennen und sich Nachschub holen! Stattdessen wird er jetzt zum Beinhaus gehen und dort Ordnung schaffen, denn den Karner an der westlichen Friedhofsmauer wird der Pfarrer bei seinen Segnungen gewiss nicht auslassen.
    Obwohl die letzte Pestepidemie schon zwei Jahre zurücklag, war der Kirchhof noch immer zum Bersten voll mit den Gerippen der Pesttoten. Bei nahezu jeder neuen Beisetzung barg der Totengräber Schädel und Beinknochen von Altbestattungen und schichtete sie im Beinhaus an der Friedhofsmauer auf. Momentan allerdings lagen dort die Gerippe einfach kunterbunt durcheinander. Sahl war in letzter Zeit einfach nicht mehr zum Aufräumen gekommen. Also trotzte er dem kalten Nieselregen, den heftigen Windböen, seinem Kater und der immer stärker werdenden Sehnsucht nach einem Glas Wein und stakste über den noch menschenleeren Friedhof zur Kapelle an der Westmauer. Als er sich dem Karner näherte, grinsten ihm die Schädel schon hämisch entgegen, ganz so, als würden sie sich über seine traurige Gestalt lustig machen und ihn daran gemahnen, dass auch seine Tage gezählt seien. Heinrich öffnete das Holzgatter und zwängte sich an den Knochenbergen vorbei ins Innere des Beinhauses. Der schmale Durchgang war übersät von Knochen, die von den Stapeln heruntergefallen waren, ungehalten schob er sie zur Seite, damit es nicht auf Schritt und Tritt unter seinen Füßen knirschte. Sogar ein Schädel war auf den Boden gerollt, den er ärgerlich ergriff, um ihn auf einen der Schädelberge zu werfen. Da gewahrte er im diffusen Licht des trüben Novembermorgens etwas Dunkles auf den Knochenstapeln, das ihm wie eine Decke oder ein Kleidungsstück vorkam.
    Seltsam, wie kommt denn das dahin? , fragte er sich erstaunt, denn er hatte es mit Sicherheit nicht dort hingelegt. Die Kundschaft, die er hierherbrachte, trug doch schon seit langem keine Kleider mehr!
    Während er sich förmlich den Arm verrenkte, um einen Tuchzipfel zu erwischen, damit er die merkwürdige Decke zu sich ziehen und in Augenschein nehmen konnte, fiel ihm auf, wie schwer sie war. Außerdem ragte plötzlich etwas aus dem Stoff heraus. Aufmerksam stierte er mit seinen altersschwachen Augen dorthin und stellte

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