Das Geheimnis der Totenmagd
Augen in der Farbe von wildem Waldhonig, Eure feingeschwungenen Lippen – was wärt Ihr für eine wundervolle Pietà«, murmelte er entzückt und schien dabei alles um sich herum zu vergessen. »Darf ich Euch einmal porträtieren? Das wäre mir ein großer Herzenswunsch.«
Katharina spürte, wie sie tief errötete. »An und für sich hätte ich nichts dagegen, aber …« Sie senkte verlegen den Blick und sprach nicht weiter.
Inzwischen waren sie am Peterskirchhof angelangt. Hastig verabschiedete sich Katharina und schlüpfte durch das Tor.
Während sie den Friedhofsweg entlang zum Bahrhaus lief, fühlte sie sich so leicht und beschwingt wie schon lange nicht mehr. Fröhlich vor sich hin summend, betrat sie die Kammer ihres Vaters.
Doch sobald sie die schlimme Unordnung und den Weingeruch wahrnahm, der in dem stickigen Raum hing, verflog ihr Wohlgefühl. Beklommen sah sie sich nach dem Vater um und entdeckte ihn auf seinem Strohsack, wo er betrunken seinen Rausch ausschlief. Wenn es auch nicht das erste Mal war, dass sie ihn so vorfand, setzte ihr der jämmerliche Anblick doch gehörig zu. Den Tränen nahe, beugte sie sich zu ihm hinunter, um ihn wachzurütteln. Heinrich Sahl stöhnte laut auf, grummelte etwas Unverständliches vor sich hin und schlug die trüben, geröteten Augen auf.
»Ach, mein Mädchen«, murmelte er mit belegter Stimme. »Sei mir net bös. Aber nach allem, was ich heut schon hinter mir hab, musst ich einen trinken.«
»Das wird nicht bloß einer gewesen sein«, entgegnete Katharina unwirsch. »Doch damit ist jetzt Schluss!« Sie ergriff den halbleeren Weinkrug, der neben dem Strohsack stand, und eilte nach draußen, wo sie den Inhalt auf den Boden goss.
Heinrich Sahl, der die Resolutheit seiner Tochter kannte, wagte nicht, dagegen aufzubegehren. Er strich sich mit fahriger Geste die strähnigen Haare aus der Stirn und versuchte mit einiger Mühe, auf die Beine zu kommen. Als Katharina ihm dabei helfen wollte, wehrte er ab und moserte, er sei ja noch kein alter Mann.
»Aber ein besoffener«, konterte die Totenwäscherin trocken, hievte den mageren Vater hoch und führte ihn zu einem Schemel am Tisch. Sie füllte Wasser in einen Becher und stellte ihn dem Totengräber vor die Nase. »Da, trink das, damit du wieder nüchtern wirst. Und dann wird was gegessen«, beschied sie ihn streng, begann, aufzuräumen und Feuer zu machen.
Während Katharina in trotzigem Schweigen das Linsengericht aufsetzte, wuchs ihre Wut noch an. Mit einem Mal platzte es aus ihr heraus: »Wenn ich dich noch einmal am helllichten Tag so besoffen erleben muss, dann kannst du in Zukunft deinen Scheißdreck alleine machen!« Sie barg das Gesicht in den Händen und fing bitterlich an zu weinen. Heinrich Sahl saß mit schuldbewusster Miene am Tisch und wusste nicht, was er sagen sollte.
»Du hast ja recht, Käthchen«, brachte er schließlich hervor und schien den Tränen nahe.
»Vadder, du darfst dich net so gehen lassen! Bitte versprech mir das«, stammelte Katharina und blickte den Vater eindringlich an.
»Is ja gut, mein Mädchen. Ich versprech es dir. Ich wollt ja sowieso mit der Sauferei aufhören. Das hab ich mir heut Nacht noch geschworen. Doch als ich am Morgen das tote Mädchen gefunden hab, da ging es mir so dreckig, dass ich einen trinken musste.« Auf den fragenden Blick seiner Tochter hin berichtete Heinrich Sahl von der Toten im Beinhaus und den Vermummten, die er in der Nacht von Allerseelen auf dem Friedhof beobachtet hatte. Katharina hörte ihm mit angespannter Miene zu und bemerkte nachdenklich:
»Und wenn das gar keine Geister waren, die du da gesehen hast?«
»Ich weiß net. Vielleicht hab ich mir das im Suff ja auch alles nur eingebildet«, erwiderte der Totengräber bekümmert und nippte an seinem Wasser.
»Überleg doch mal genau, Vadder. Du bist seit über dreißig Jahren Totengräber und saufen tust du auch schon, solange ich denken kann. Hast du denn jemals irgendwelche Geister oder Gespenster auf dem Friedhof gesehen?«
»Nee, eigentlich net.«
»Siehst du. Das sind doch alles nur Ammenmärchen, mit denen man Kindern und abergläubischen Leuten Angst einjagen kann. Ich glaub jedenfalls nicht an so was. Und du doch eigentlich auch nicht.«
»Stimmt. Ich sach immer: ›Klappe zu, Affe tot‹, und fertisch ist’s«, entgegnete der Totengräber grinsend und schien allmählich seinen Galgenhumor wiedergefunden zu haben.
»Genau. Und deswegen glaub ich auch nicht, dass diese Vermummten
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