Das Geheimnis der versteinerten Traeume
da?«
»Leo. Leo Leonidas.«
»Junge!«, keuchte es aus dem Hörer. »Wir haben uns Sorgen gemacht. Pausenlos klingeln hier die Telefone. Deshalb ist das Sekretariat um diese Zeit auf meinen Anschluss umgestellt. Sind die anderen auch bei dir?«
»Orla ist tot«, antwortete Leo mit erstickter Stimme.
»Was? Wie konnte das passieren?«
»Unheimliche Kreaturen haben sie umgebracht. Wenn ich sie Ihnen beschreibe, halten Sie mich für verrückt.«
»Sprichst du von Refi Zuls Schergen?«
»Sie kennen Zul?«, staunte Leo.
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung. Als Huber wieder sprach, flüsterte er. »Wirst du beobachtet? Von wo aus telefonierst du?«
»Ich bin in einem U-Bahnhof und hab mir ein Handy geliehen.«
»Was ich dir jetzt sage, darfst du niemandem verraten«, raunte der Alte. »Ich gehöre zu Kretis’ Gefolgschaft und beobachte das Drusentor unter dem Salemer Schloss schon seit geraumer Zeit. In welcher Stadt bist du gerade?«
»München. Ich bin durch das letzte Traumtor zurückgekommen, ehe es verschüttet wurde. Zuls Wächter sind hinter mir her.« In knappen Sätzen fasste Leo die katastrophalen Umstände seiner Flucht zusammen. »Der Hagel kam so schnell … Ich hab nicht mal geschafft, eine von Orlas Schlafpastillen zu nehmen.«
»Ganz ruhig, Junge. Du hast das Richtige getan. Ich komme mit dem Auto und hole dich ab. Wird ungefähr drei Stunden dauern, bis ich bei dir bin.«
»Wo treffen wir uns?«
»Wo bist du genau?«
»Marienplatz.«
»Das trifft sich gut. Meine Schwester wohnt in München, deshalb kenne ich mich in der Stadt einigermaßen aus. Zwei U-Bahn-Stationen weiter südlich gibt es eine verlassene Brauerei. Teilweise verfallen. Da wird dich niemand suchen. Warte in der großen Brauhalle auf mich. Aber geh nicht sofort hin. Du musst dich in der Zwischenzeit verstecken.«
»Ich hab nicht die geringste Ahnung, wo.«
»Fahr mit der Linie U 3 bis zum Olympiazentrum. Da ist ein Park. Um diese Zeit dürftest du da sicher sein. Komm um zwei Uhr ins alte Brauhaus. Lass dich auf keinen Fall früher dort blicken, das wäre zu gefährlich. Nimm am besten die U-Bahn. Am Goetheplatz steigst du in Fahrtrichtung aus. Dann stößt du auf die Lindwurmstraße …«
»Na toll! Schon wieder ein Drache.«
Um Mitternacht kann selbst ein beleuchteter Olympiapark unheimlich sein. Leo jedenfalls empfand das so. Der Jogger, dem er auf der Brücke über dem Mittleren Ring begegnet war, hatte ihm einen Riesenschreck eingejagt. Dabei war es nur ein Nachtschwärmer gewesen, kein Hyänenschwein. Vielleicht ein Arzt, der nach seiner letzten Notoperation noch etwas für die eigene Gesundheit tun wollte. Leo hatte sich panisch in die Büsche geschlagen.
Jetzt saß er auf einer Bank am Olympiasee unterhalb des Olympiaturms und starrte verdrossen auf das Olympiastadion, das mit seinen Streben und der zeltartigen Dachkonstruktion wie ein riesiges Insekt im Olympiapark kauerte. Von der nahen achtspurigen Straße hallte das Röhren eines Motorrads herüber. Die Luft war frisch. Wenigstens hatte der Regen aufgehört. Der Halbmond lugte vorwitzig aus einer Wolkenlücke hervor. Morgen war Herbstanfang. Leo blickte zum wiederholten Mal auf
die Uhr. Erst in anderthalb Stunden durfte er sich auf den Weg zum Treffpunkt machen. Der Sekundenzeiger schien zu schleichen.
Das Warten tat ihm nicht gut. Vor seinem inneren Auge tauchte immer wieder die schreckliche Szene auf, die er im Drusentor gesehen hatte: Orla in einer Blutlache, umgeben von toten Wächtern. Und das Gesicht von Mark Schröder.
Benno hatte den Verräter durchschaut. Vielleicht war die Bohnenstange sogar für den Mord an Orla verantwortlich. Verbittert schüttelte Leo den Kopf. Er hätte sie nicht allein zurücklassen dürfen …
Irgendwo jaulte ein Tier. Leo horchte auf. Was war das? Er lauschte. Vom Olympiaberg zu seiner Linken her hallte ein Lachen. Es war kein menschlicher Laut, sondern klang eher wie … eine Hyäne? Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Ängstlich blickte er sich um. In den Schatten auf der gegenüberliegenden Seite des Sees meinte er dunkle Schemen wahrzunehmen.
Wächter!
Anders als am Strand von Tirza mieden diese hier die offene Attacke. In Illúsion war ihr Frontalangriff ja grandios gescheitert. Refi Zul hatte wohl eine neue Taktik an seine Geheime Schlafpolizei ausgegeben.
Plötzlich vernahm Leo ein unheimliches Geräusch, ein metallisches Knarzen wie von einer Hängebrücke, die einem Sturm trotzte.
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