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Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Das Geheimnis der versteinerten Traeume

Titel: Das Geheimnis der versteinerten Traeume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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überraschende Wendung gegeben. Vielleicht hatte Durs Huber mit seiner Erwähnung der Lindwurmstraße die Gedankenverbindung vorbereitet oder sie entsprang der schlanken Form des Sendeturms. Jedenfalls wusste Leo jetzt, was er zu tun hatte.
    Seine Augen fixierten das fast dreihundert Meter hohe Bauwerk.
    Wenige Herzschläge später bewegte es sich. Zuerst bog sich die rot-weiße Antenne nur leicht herab und drehte sich nach allen Seiten, so als blicke sie sich um. Als die Spitze auf das Insekt zielte, vollzog sich eine unglaubliche Veränderung.
    Der Turm verwandelte sich in einen Lindwurm aus Stahl und Beton. Aus dem schlanken Sendemast wurde die Schwanzspitze, der Aussichtskorb rutschte nach unten und mutierte zum Kopf des Ungetüms. Als erstes Lebenszeichen ließ es ein gewaltiges Brüllen vernehmen, das im näheren Umkreis etliche Dachziegel von den Dächern fegte. Dann schien der Olympiaturmwurm umzukippen, fing sich kurz vor dem Boden jedoch ab und zischte unvermittelt wie eine Rakete los.
    Direkt auf das Insekt zu.

    Leo schluckte. Er hatte inzwischen begriffen, dass Traumgeborene manchmal kaum zu kontrollieren waren. Hoffentlich hatte er sich nicht gerade das eigene Grab geschaufelt.
    Der Stahlbetonlindwurm griff das Insekt ohne Zögern an. Es versuchte nach Osten auszuweichen, Häuser und beleuchtete Straßen jagten unter ihm und seiner zappelnden Beute hinweg. Über dem Englischen Garten krachte das schwere Haupt des belebten Fernsehturms in den Flügel des Stadiondaches. Plexiglassplitter regneten auf den Park herab. Ein klagender Laut erfüllte die Nacht wie bei einem sinkenden Stahlschiff.
    Das Insekt riss sich von seinem Gegner los, wobei es einen größeren Teil seiner Schwinge einbüßte, und schlug einen Haken nach Südwesten. Hektisch flatternd versuchte es, seinem Verfolger zu entkommen. Leo sah unter sich den Marienplatz vorbeiziehen und die Zwillingstürme der Frauenkirche. Das Sendlinger Tor kam in Sicht. Würde das Biest ihn über dem Kino abwerfen?
    Der Monsterturm schnappte abermals nach einem der Flügel, verfehlte ihn diesmal jedoch. Die irrwitzige Hatz folgte nun der Lindwurmstraße. Irgendwo da unten musste die verlassene Brauerei sein. Leo hatte das Gefühl, nicht mehr so fest im Würgegriff des Insekts zu stecken. Er stützte sich mit den Händen auf die Pranke und versuchte sich hochzuschieben. Vergeblich.
    Krachend schloss sich das Maul des Lindwurms um eine der Flügelspitzen. Das Insekt riss sich erneut los und taumelte nach rechts. In diesem Moment lockerten sich die stählernen Klammern um Leos Brust. Er schrie vor Anstrengung, als er sich vollends aus dem Griff befreite. Plötzlich rutschte er ab.
    Seine Hände fuhren ziellos durch die Luft und bekamen ein Stahlseil zu packen. Reiner Zufall. Was für ein Irrsinn! Gerade noch hatte er sich mit aller Macht losreißen wollen und nun hielt er sich freiwillig fest. Unter ihm tauchte eine Grünanlage auf,
in der große Zelte und allerlei Fahrbetriebe von Schaustellern standen. Das musste die »Wiesn« sein – die Theresienwiese –, Schauplatz jenes alljährlichen Trinkgelages, das sich Oktoberfest nannte. Auf dem Festgelände herrschte Nachtruhe. Wie sollte er seinem Angreifer entkommen, ohne wie eine fallen gelassene Weißwurst am Boden zu zerplatzen?
    Der Olympiaturm schlug abermals zu. Diesmal erwischte er das flatternde Stadiondach genau in der Mitte. Mit brutaler Gewalt zermalmten seine monströsen Kiefer den Flügelleib. Die Erschütterung war so heftig, dass Leo den Halt verlor und in die Tiefe stürzte.
    In diesem Moment frischte sein Bewusstsein ein wichtiges Detail auf, das er zwischenzeitlich vergessen hatte: Er schlief immer noch! In der schwungvollen Abwärtsbewegung rasten seine Gedanken schneller als sein Körper dahin, weshalb ihm der Sturz nur wie ein sachtes Sinken vorkam. In dieser kurzen Zeit entsann er sich einer von Orlas Lektionen: Überall auf der Welt träumen Menschen vom Fliegen. Die Erinnerung an seine Stärken als Traumwandler kam glücklicherweise vor dem Aufschlag.
    Und so flog er. In einem eleganten Bogen wandelte er seinen Sturz in eine Vorwärtsbewegung um und jagte im Höllentempo über Karusselle und Festzelte hinweg. Bevor er das Ende des Rummelplatzes erreichte, kam er vor einem blau-weiß gestreiften Bierzelt zum Stillstand und ließ sich sanft zu Boden sinken. Sämtliche Haare standen ihm zu Berge, so schauerlich brüllten und klagten die beiden Traumgeborenen hinter ihm. Was hatte er da nur

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