Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Refi Zuls Wächtern flog an ihm vorbei und blieb irgendwo hinter ihm auf dem verkohlten Hang liegen. Er ahnte, dass Leo und Orla den Weg zum Haus des Illúsischen Rates gefunden hatten. War er zu spät gekommen?
Er schluckte eine der Schlafpastillen, die ihm der gute Dalmud gegeben hatte, und stolperte in den Krater hinab. Die letzten zwei Tage steckten ihm gehörig in den Knochen. Seine Beine waren bleischwer und die Nerven so brüchig wie verkohltes Papier. Er hatte Todesängste ausgestanden, nachdem er von den Federechsen niedergeschlagen und verschleppt worden war. Stundenlang hatte er benommen vor sich hingedämmert. Als
sein Verstand wieder klar war, hatte er die Traumgeborenen in Eisvögel verwandelt und sich davongemacht.
Im Morgengrauen hatte er Tirza erreicht. Leo, Orla und Benno waren bereits fort. Der gute Dalmud hatte das Dorf kurz zuvor gegen eine Meute von hyänenartigen Bestien verteidigt. Mark berichtete dem Alten, dass er im Auftrag von Osmund Okumus käme. Der Lehrer habe ihn angewiesen Orla und Leo nach Illúsion hinüberzubegleiten, ehe die Polizei sie schnappte. Aber er sei zu spät gekommen. Die zwei hätten sich schon verdünnisiert. Er sei ihnen ins Reich der ungeträumten Träume gefolgt. Dabei müsse Benno sich an seine Fersen geheftet haben. Vermutlich sei er ein Verräter.
Dalmud reagierte betroffen. »Du musst sie unbedingt einholen und warnen!«, drängte er den Jungen. Das war leichter gesagt als getan. Orla hatte das Auslegerboot ihres Ziehvaters mitgenommen.
Zum Glück fand sich ein hilfreicher Nachbar, der sich im Chaos auskannte. Er stellte Mark seine »Kompassnadel« zur Verfügung, ein langes, sehr schmales Boot, das er aus dem Stamm eines Botenbaumes gebaut hatte.
Diese pappelartigen Gewächse ernährten sich ausschließlich von wässriger Traumenergie, was ihnen einige vorteilhafte Eigenschaften verlieh. Die Illúsier pflegten das silbrige Laub dieser Bäume zu beschriften und dem Wind anzuvertrauen, so wie man andernorts eine Flaschenpost ins Meer wirft. Im Unterschied zu diesem sehr zeitaufwendigen und ungenauen Zustellverfahren suchten sich die Blätter des Botenbaumes ohne fremdes Zutun die jeweils günstigsten Luftströmungen, um ihre Nachricht auf schnellstmöglichem Wege zum Empfänger zu befördern. Das Holz der Botenpflanze besaß ähnliche Eigenschaften, wenn man es den Meeresströmungen anempfahl. So gelangte
Mark auf die Insel des großen Steins, kurz, nachdem Leo und Orla sie erreicht hatten.
Auf dem Weg ins Innere des Feuerwaldes entdeckte er weitere tote Bestien, einige baumelten wie bizarre Hülsenfrüchte in den Bäumen, andere lagen am Boden. Endlich erreichte er den grünen Dom in der Kratermitte. Über der Steinplatte mit dem Vogel-Augen-Relief hing ein schwaches Flimmern. Inzwischen hatte Marks Klartraum begonnen, er fühlte sich wie ein frisch aufgeladener Akku. Das unsichtbare Haus des Rates sei in einer Art Zwischendimension versteckt, hatte der gute Dalmud gesagt. Einem Traumwandler wie Leo sollte es nicht schwerfallen, sich Zugang zu verschaffen.
Mark stellte sich das verblassende Tor als kontrahierendes Wurmloch vor. Hatte es sich erst völlig zusammengezogen, würde er den Kristalldom niemals finden. Er war nicht unbegabt, doch an die Fähigkeiten von Leo reichte er bei Weitem nicht heran. Inzwischen hatte er sich damit abgefunden. Wie ein Spürhund folgte er der Fährte seiner Mitschüler.
Der Wechsel in die Zwischendimension verlief nicht ganz reibungslos. Mark kam sich vor wie ein Strick, der durch ein enges Nadelöhr gezerrt wurde. Zum Glück hatte er die ideale Figur für derlei Übungen.
Im nächsten Moment war er pitschnass.
Prustend trat er aus dem Sturzbach der Traumquelle hervor und blickte sich um. Ihm rann ein Schauder über den Rücken, als er die gekappten Haltetaue der riesigen Kugel bemerkte. Das Gewicht des Kristalls zerrte an den verbliebenen Kabeln, was diese wie die Saiten an einem Kontrabass vibrieren ließ. Jede Sekunde konnten sie reißen.
Mark wischte sich die Gischt aus dem Gesicht. Die Kopfschmerzen würden tödlich sein, falls ihm das Haus aufs Haupt
fiel. Sollte er umkehren? Was, wenn Leo oder Orla noch da oben waren? Selbst Benno wünschte er kein so erbärmliches Ende.
Unversehens bemerkte er eine Bewegung zu seiner Linken. Mehrere bewaffnete Wächter eilten an einem Pfeiler hinab, der wie eine Wendeltreppe geformt war. Sie rannten um ihr Leben. Die haarigen Bestien würden kurzen Prozess mit ihm machen. Noch
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