Das Geheimnis der versteinerten Traeume
zutraue.
Manchmal wusste Leo wirklich nicht, ob sein Lehrer nur einen skurrilen Humor oder eine zu schwarze Fantasie hatte. Jedenfalls entpuppten sich seine Befürchtungen als unbegründet. Als sie aus dem Wagen stiegen, blieb der polizeiliche Zugriff aus. Die konspirative Verbringung der verdächtigen Person in die Lehrerunterkunft verlief ebenfalls ohne Zwischenfälle. Und bis zum Sonnenaufgang erfolgte auch kein Beschuss mit Blendgranaten oder Tränengasbomben auf das Apartment des neuen stellvertretenden Direktors. Die Sondereinsatzkommandos vergnügten sich anderswo.
Für ein Quartier im Schloss war die Einzimmerwohnung von
Osmund Okumus bescheiden, für ein ehemaliges Kloster indes luxuriös. Es verfügte über Parkettboden, ausreichend Platz für ungefähr zweitausend Bücher und eine sardinenbüchsengroße Dusch-Klosett-Kabine. Gekocht wurde in einer Gemeinschaftsküche des Lehrerkollegiums. Abgesehen von den Regalen, einem alten Schreibtisch mit neuem Computer, einer sündhaft teuren Hi-Fi-Anlage und einem verblüffend kleinen Schrank war die Einrichtung spartanisch. Der Lehrer besaß überdies ein blaues Schlafsofa mit Lattenrost und einen farblich darauf abgestimmten Klappsessel aus Schaumstoff, der sich als Notbett eignete. Die Aussicht in den zwei Westfenstern war atemberaubend.
Okumus erklärte Leo, was er sich tunlichst verkneifen sollte. Dazu gehörten sämtliche Geräusche, wenn er alleine war. Es wohnten noch andere Kollegen auf dem Flügel. »Am besten, du schläfst dich erst einmal aus«, schlug der Ordinarius vor. »Aber bitte leise!«
Leo stöhnte. »Ich weiß nicht, ob ich im Schlaf rede oder schnarche.«
»Dann beschränke dich auf Klarträume. Die sind zwar bei Weitem nicht so erholsam, doch im Moment dürfen wir kein Risiko eingehen.«
»Wollten wir nicht eine Verschwörung gegen Robert Zaki anzetteln? Schicken Sie alle weg, die da nicht mitmachen, dann sind wir unter Verbündeten.«
Okumus sah Leo forschend an. »Dir ist es wirklich ernst?«
»Er hat Orla auf dem Gewissen.«
»Du hast sie sehr gern gehabt, nicht wahr?«
Leo schlug die Augen nieder und nickte. Sein Hals war wie zugeschnürt. Er spürte, wie sich die Hand des Lehrers auf seine Schulter legte.
»Ich mochte sie auch, Leo. Bist du bereit, die Speerspitze im letzten Aufgebot der Traumschmiede zu sein?«
Er sah überrascht auf. »Ich?«
»Du bist ein mächtiger Traumwandler. Ohne dich haben wir gegen den König kaum eine Chance.
Leo schluckte. »Ich bin dabei.«
Der Ordinarius lächelte erleichtert. »Du bist endlich mit deinem verborgenen Ich eins geworden. Das ist gut. Jetzt können wir uns unserem Feind stellen. Sollte er hier mit seiner Geheimen Schlafpolizei aufkreuzen, werden du und die anderen Traumschmiede ihnen einen heißen Empfang bereiten. Ich habe übrigens schon die Kollegen beurlaubt, denen ich nicht traue. Aus den verbliebenen Schülern und Lehrern lässt sich eine ganz schlagkräftige Truppe schmieden.«
»Wenn Sie sich in nur einem von ihnen täuschen, fliegt unser Plan auf.«
Okumus verzog das Gesicht. »Einen Tod müssen wir sterben. Selbst du kannst nicht ganz allein gegen Zul und seine Handlanger gewinnen.«
Die neunundsechzig Moais standen in einer langen Reihe auf einer Anhöhe. Vom Meer her wehte ein scharfer Wind über die Insel Rapa Nui. Das lange Gras zu Füßen der Steinfiguren wirbelte wild umher.
Plötzlich verfinsterten sich Sonne und Mond. Schwarze Schatten schoben sich vor die Gestirne, einer war rund wie eine Scheibe und der andere ganz ungleichmäßig geformt.
Die Altvorderen erwachten. Wie auf ein geheimes Zeichen hin drehten sie sich um. Ihre Blicke bohrten sich in Leos Augen …
Er schreckte aus dem Schlaf auf und keuchte. Seine Stirn war
schweißnass. Es war nur ein Traum, beruhigte er sich, einer von der unkontrollierten Sorte.
Einen Moment lauschte er. Im Flur vor dem Appartement war nichts zu hören.
Leo erhob sich von der Klappmatratze. Er war aufgeregt. Der Traum hatte ihm die Erleuchtung gebracht, eine zündende Idee. Vielleicht sogar die Rettung von Illúsion und der restlichen Menschenwelt.
Die Herbstsonne war schon über das Schloss hinweggewandert und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Leo blickte auf seine Armbanduhr. Es war drei Uhr nachmittags. Er griff zum Telefon und wählte den Anschluss des Direktors.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, meldete sich Okumus nach nur einmaligem Läuten. Seine Stimme zischte wie ein überhitzter
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