Das Geheimnis der versteinerten Traeume
die Nacht durchgearbeitet? Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Dem Bericht des Schülers folgte er nur mit einem Ohr und bitterernster Miene. Als Leo ihm die Geschichte vom Wasserläufer erzählte, sah er ständig auf die Uhr. Wie schon vor zwei Tagen saßen die beiden an dem runden Besprechungstisch im Büro des Direktors.
»Vermutlich bist du schlafwandelnd per Anhalter auf die andere Seeseite gelangt«, brummte er schließlich.
Auf die Idee war Leo noch gar nicht gekommen. »Ist das denn möglich?«
»Absolut. Dazu muss man nicht mal ein Traumschmied sein. Es hat sogar schon Schlafwandler gegeben, die einen Mord begingen und nachher nichts davon wussten.«
»Ich kann mich ganz genau an meinen Traum erinnern«, gab Leo zu bedenken. Wie er nach Überlingen hinuntergeschwebt und mit Bilibibb über den Bodensee getanzt war. Die Seejungfer hatte sich gefreut ihn wiederzusehen und ihn wie einen guten Freund behandelt – im Gegensatz zu Orla, für die er mal ein Spion dieses Refi Zul und dann wieder reinste Luft war. Letzteres hatte er weder den Polizisten noch Okumus oder Dabelstein erzählt.
»Nun, ich will nicht ausschließen, dass du tatsächlich auf dem Wasser gewandelt bist. So lautete ja eure Hausaufgabe. Für einen tüchtigen Traumwandler ist so etwas keine große Sache. Die Realisierung beschränkt sich für ihn nicht allein auf die Erschaffung von Gegenständen oder Lebewesen, sondern schließt genauso Szenen und Fähigkeiten ein. Es gab mindestens einen Traumschmied, der hat sogar eine ganze Welt erschaffen.«
»Echt?«
Dabelstein nickte nachdrücklich. »Ihr Name ist Illúsion und er hieß Timaios. Später hat man ihn verunglimpft und ihn Demiurg genannt. Das bedeutet …«
»Handwerker«, sagte Leo und grinste. »Mein Vater ist Grieche.«
»Ach ja! Das war mir entfallen.« Die Miene des Direktors verdüsterte sich. »Sei es, wie es ist. So begnadet du bist, Leo, muss ich deine unbeherrschten Ausbrüche trotzdem scharf verurteilen. Halte die Gabe in dir gefälligst im Zaum. Stell dir vor, sie wäre eine Geige. Da kannst du auch nicht einfach hemmungslos drauflosfiedeln. Du musst erst lernen, mit dem Instrument zu spielen.«
»Das will ich ja«, verteidigte sich Leo. »Ich finde es von Ihnen nur ziemlich ungerecht, nach nur drei Tagen von mir zu verlangen …«
»Die Zeit hat dir gereicht, um hier die wildesten Gerüchte ins Kraut schießen zu lassen. Und jetzt kommt noch dieser Bauer hinzu, der seine nächtlichen Visionen vom Wasserwanderer bestimmt nicht für sich behalten wird. Wenn du so weitermachst, bringst du uns alle in Teufels Küche.«
»Aber ich habe doch nicht mit Absicht …«
»Ein Klarträumer tut nichts unbewusst«, brauste Dabelstein auf. »Das ist ja gerade das Wesen des luziden Träumens. Du bist nur zu sehr auf dich selbst fixiert und lässt deinen Trieben freien Lauf. Reiß dich endlich am Riemen, Leo. Lerne, deine Träume zu kontrollieren. Und jetzt lass mich allein. Ich habe Dringenderes zu tun, als meine Zeit mit einem Hitzkopf zu vergeuden.«
Leo erhob sich. Wie ein begossener Pudel schlurfte er zur Tür. »Soll Sie der Schlag treffen, Dabelstein!«, murmelte er, als er die Klinke hinunterdrückte.
»Ist noch was?«, fragte der Direktor. Er stand schon wieder hinter seinem Schreibtisch und griff zum Telefonhörer.
»Ich habe nur laut gedacht.«
»Denk draußen weiter. Ach ja, und sprich mit niemandem über den Vorfall. Kein Sterbenswörtchen, hörst du?«
Leo nickte, verließ den Raum und schloss unsanft die Tür. »Kontrollier dich doch selbst«, grummelte er. Seine Hand ruhte noch auf der Klinke, während er darüber sinnierte, wie er die Ermahnung des Direktors praktisch umsetzen sollte. Dabei kam ihm ein erschreckender Gedanke. In letzter Zeit war der Traummüll wiederholt aus geheimen Sehnsüchten und Wünschen entstanden. Und gerade eben hatte er den Griesgram im Büro regelrecht verflucht …
»Das mit dem Schlag war nicht ernst gemeint, Doktor Dabelstein«, murmelte er rasch, so als könne er damit die achtlos ins Meer der Träume geworfene Vorstellung wieder herausfischen. Plötzlich hörte hinter sich ein Geräusch. Erschrocken ließ er die Türklinke los und fuhr herum.
Okumus grinste ihn an. Sonst nichts. Er stand einfach nur da, die Arme über der Brust verschränkt und grinste. Ob er das gegen die Tür gerichtete Gemurmel des zornigen Schülers verstanden hatte?
Leo öffnete den Mund. Irgendetwas musste er zu seiner Verteidigung sagen.
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