Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Mädchen saß. Sie nickte, erst unmerklich, und als der Direktor weitersprach, ganz unverhohlen.
»Überdies soll es zu schweren Fällen von Realitätsverlust gekommen sein: Die in der Studie erwähnten Personen konnten angeblich nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Einer sei aus dem zwölften Stock eines Wohnhauses gesprungen, nachdem er steif und fest behauptet hatte, er könne fliegen. Jetzt bezeichnet ein Fernsehsender Robert Zakis Firma reißerisch als Selbstmordfabrik.«
In der vordersten Reihe schnippte Levin ungeduldig mit den Fingern.
»Was ist denn, Goldstein?«, wandte sich der Internatsleiter an den Lockenkopf.
»Was bedeutet das alles für uns, Herr Direktor?«
»Zunächst einmal ändert sich nichts. YourDream prüft zurzeit, ob die Rahmenbedingungen für die Tests praxisnah gewesen sind, also ob bei vorschriftsmäßiger Benutzung der DreamCaps die beanstandeten gesundheitsgefährdenden Faktoren auftreten können. Ich habe vorsorglich das Traumlabor geschlossen. Sämtliche Schüler, die Induktorenkappen besitzen, werden sie ihrem Flügelleiter aushändigen, der die Geräte in eine Liste einträgt und alles dem Kollegen Okumus aushändigt.« Dabelstein holte tief Luft, als koste es ihn große Überwindung weiterzusprechen. Seine Miene wirkte verbittert.
»Weil ich mich nicht mehr uneingeschränkt für die Unbedenklichkeit der Traumtechnologie verbürgen kann, stelle ich es den Eltern und Schülern anheim, die Zusammenarbeit mit
der Traumakademie per sofortiger Wirkung aufzukündigen. Ich selbst prüfe derzeit die neuen Vorwürfe. Sollten sie sich als wahr herausstellen, werde ich von meinem Posten als Internatsdirektor zurücktreten. Bis dahin werde ich selbstverständlich alles in meiner Macht Stehende tun, um jegliche Gefährdung meiner Schutzbefohlenen zu vermeiden und ihnen die bestmögliche Ausbildung angedeihen zu lassen. Einen entsprechenden Brief habe ich bereits an die Erziehungsberechtigten versandt. Die nächsten Tage werden spannend, das ist sicher. Wünschen wir uns allen das Beste.«
Als Dabelstein die Bühne verließ, herrschte betretene Stille im Saal. Sogar Benno war der Appetit vergangen.
J esus von Überlingen geht übers Wasser – Mit dieser Überschrift torpedierte am Donnerstag eine im Bodenseeraum verbreitete Zeitung die Geheimhaltungspolitik von Doktor Dabelstein.
Der Hauptbeteiligte, im Artikel »Leo L.« genannt, hatte mit keinem Journalisten über seine Erlebnisse »in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch« gesprochen. Diese Gepflogenheiten der Sensationspresse kannte Leo bereits. Fakten waren zweitrangig.
Er bekam die Gazette beim Frühstück von Benno mit einem »Was hast du jetzt wieder angestellt?« unter die Nase geschoben. Der Rotschopf hatte vier Marmeladenbrote vor sich ausgebreitet. Leo funkelte seinen Freund wütend an. Ihm hallte noch die Mahnung Dabelsteins in den Ohren: Sprich mit niemandem über den Vorfall. Kein Sterbenswörtchen hörst du? Der Direktor würde ihn zur Minna machen. »Die haben sich alles aus den Fingern gesaugt«, klagte er und deutete auf die Stelle, wo stand:
Jesus wandelte über den See Genezareth. Lief der Salem-Schüler Leo L. über den Bodensee? Ein Zeuge berichtete, er habe den Jugendlichen dabei beobachtet, wie er auf den Wellen mit einer blonden Seejungfrau Walzer tanzte.
»Dazu hörte ich eine himmlische Musik. Die beiden umschillerte ein elysisches Licht«, erklärte Ludwig K. aus dem schweizerischen Wallhausen gegenüber der…
»Manchmal nimmt’s die Presse mit der Wahrheit nicht so genau. Das mit der Blondine is’ eindeutig ’n Fake«, kicherte Benno.
»Ach, und der Rest?«, regte sich Leo auf. »Ich meine, ›elysisches Licht‹ – hört sich das an wie der Wortschatz eines alten Kuhbauern?«
Benno zuckte die Achseln. »Schätze, er is’ kathodisch.«
»Du meinst katholisch?«
»Genau.«
»Von wegen. Unser Direktor wird mich vierteilen, weil er glauben muss, ich hätte mit den Pressefuzzis gesprochen.«
»So vollpanne kann nicht mal der Dabel sein.«
Unvermittelt stieß jemand Leo von hinten an. Er wollte schon seinem Unmut Luft machen, als er Orla Flaith von sich weggehen sah. Hatte sie …?
»Guck mal einer an!«, stichelte Benno. »Die Oberzicke hat dir ’n Liebesbrief zugestellt.«
Leos Blick löste sich vom Rücken des Mädchens und schwenkte zu dem Teller herum, der vor ihm stand. Zwischen den Krümeln lag ein mehrfach zusammengefalteter Zettel.
»Jetzt sag endlich, was die
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