Das Geheimnis der versteinerten Traeume
Bennos Schrei ließ Orla verstummen. Der Wind wehte ein unheimliches Jaulen herbei. Sie warf den Kopf herum.
Auch Leo richtete den Blick nach Süden. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Seine Rechte griff wie von selbst nach dem eisigen Igelrattenstachel, ließ ihn aber im Gürtel stecken. Das Ding würde ihm ohnehin nichts nützen. Etwa einen halben Kilometer entfernt, stürmte ein Rudel aus mindestens drei Dutzend Hyänenschweinen den Strand entlang, direkt auf das Boot zu. Die
Wächter mussten um die Sandbarriere herum- und durch den Schilfwald hindurchmarschiert sein. »Als wüssten sie genau, wo sie uns finden«, murmelte Leo.
»Red nicht, hilf mir lieber!«, rief Orla. Sie schleuderte auch das zweite Tau seewärts, sprang gleich hinterher und begann daran zu ziehen.
»Benno!«, brüllte Leo, um sich seinem vor Schreck erstarrten Freund bemerkbar zu machen.
Der Gerufene blinzelte wie ein erwachender Schlafwandler und wandte sich dem Auslegerkanu zu.
Warum zögert der Trottel? »Steh da nicht rum. Komm her und hilf uns!«
Einen Moment lang verharrte Benno weiter auf der Stelle. Er wirkte unschlüssig. Dann packte er den Proviantbeutel, eilte zum Boot und warf den Sack hinein.
»Du schiebst, wir ziehen«, sagte Leo, lief zu Orla, schnappte sich das andere Seil und legte sich ins Zeug.
Quälend langsam schabte das Boot über den Sand.
»Sollten wir uns nicht lieber im Schilf verstecken?«, keuchte Benno von hinten. Die Wächter stimmten ein wildes Geheul an. Sie kamen beängstigend rasch näher.
»So ganz dumm ist der Vorschlag nicht«, pflichtete Leo seinem Freund bei.
»Schon vergessen?«, ächzte Orla. »Ich bin das Kind von Traumgeborenen. Sie würden meiner Witterung folgen und uns aufspüren.«
Richtig!, erinnerte sich Leo. Davon hatte sie in der Klosterbibliothek gesprochen. Wir Illúsier können einander wittern, manchmal noch nach Tagen …
»So wird das nichts.« Orla ließ das Tau fallen.
»Ich könnte versuchen zu fliegen«, schlug Leo vor.
Sie schüttelte den Kopf. »Wohin denn? Ich kann euch nicht zur Insel des großen Steins führen. Und hier herumzuhüpfen würde diese Jagd nur in die Länge ziehen, bis wir zu erschöpft wären, vor den Wächtern zu fliehen. Ich habe eine bessere Idee. Lasst uns ins Boot klettern.« Orla schwang sich ins Kanu.
Was sollte das nun wieder? Er blickte bang zu der heulenden Meute, die wohl schon die Hälfte der Distanz überwunden hatte. Ein Schlafverwandler könne Neues hervorbringen, hatte Orla gesagt. Aber was? Leos Kopf war wie leer gefegt, er fand darin nichts, mit dem er die Rotte hätte zurückschlagen …
»Nun macht endlich!«, drängte das Mädchen. Sie winkte Benno, damit er zu ihr ins Kanu stieg.
»Ich schiebe lieber bis zuletzt«, weigerte er sich und stemmte sich gegen das Boot.
»Spielst du jetzt den Helden oder was?« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ach, mach doch, was du willst.« Ihr Blick wechselte wieder zu Leo. »Sei du wenigstens vernünftig und steig ein!«
Er bückte sich und hob eine Handvoll Sand auf. Nachdenklich durchpflügte er die losen Körnchen mit dem Daumen. Dann atmete er tief ein, fixierte die heranstürmende Meute an und warf den Sand.
Sofort stob dieser auseinander, sank aber nicht zu Boden, wie es die Schwerkraft eigentlich gebot, sondern flog mit zunehmendem Tempo auf die Hyänenschweine zu. Dabei wirbelten vom Strand immer weitere Körnchen empor. Bald war daraus eine undurchsichtige Wolke entstanden, die sich an verschiedenen Stellen zu verdichten begann. Nach ungefähr einhundert Metern wurden die Verklumpungen klar. Es bildeten sich gläserne Reiter, die mit gesenkten Lanzen auf ihren Schlachtrössern der Rotte entgegenstürmten.
Die Attacke der Hyänenschweine kam zum Stillstand.
»Sind das Eisritter?«, staunte Orla.
Leo schüttelte den Kopf. »Glaskrieger. Glas entsteht aus Sand. Mir ist auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Bin ich nun ein Former oder ein Schlafverwandler?«
»Du hast vielleicht Sorgen!«, keuchte Benno.
Das Mädchen lächelte. »Letzteres würde ich meinen – sofern deine Glasarmee so lebendig ist, wie sie aussieht. Könntet ihr jetzt bitte einsteigen?«
»Ich bin der Schieber«, beharrte der Rotschopf und legte sich erneut ins Zeug. Erstaunlicherweise bewegte sich das Kanu.
Ohne den Blick von den Reitern zu wenden, schwang sich Leo hinein. Von seinem Fuß tropfte Wasser herab. Überrascht bemerkte er, dass sich um das Boot herum eine tiefe Mulde
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