Das Geheimnis der versteinerten Traeume
gebildet hatte, die sich gerade mit Meerwasser füllte. Wegen seiner nassen Schuhe und wohl auch, weil die Erschaffung der Glaskrieger seine ganze Konzentration gefordert hatte, waren ihm Orlas formerische Aktivitäten nicht aufgefallen.
Ein lautes Klirren kündete vom Zusammenprall der beiden Kampfverbände. Die Reiter galoppierten blindlings in die axtschwingenden Chimären hinein. Dabei spießten sie etliche auf und trampelten andere in den Sand. Der Glasbruch in den eigenen Reihen war immens. Wahrscheinlich wurden mehr Wächter von herumfliegenden Scherben außer Gefecht gesetzt als von den Waffen der Ritter oder den Hufen ihrer Schlachtrösser. Eine Meute von sechs oder sieben Hyänenschweinen durchbrach die splitternde Phalanx der Verteidiger.
»Du hättest ihnen ein Gehirn geben sollen«, sagte Orla.
»Kannst es ja besser machen«, knurrte Leo. Er spürte, wie das Auslegerkanu schaukelte.
»Was hast du an meinem Kanal auszusetzen?« Sie deutete auf
eine tiefe, breite, mit Wasser gefüllte Rinne, die bis ins Chaosmeer reichte. Schäumende Wellen schwappten von dort herein und umspülten den Bug des Kanus. Quälend langsam kroch es voran. Benno keuchte vor Anstrengung.
»Orla, wir müssen fahren und zwar schnell.«
Weitere Wächter schafften den Durchbruch. Die Vorhut war noch fünfzig Meter vom Boot entfernt.
Sie zückte das Schwert. »Wie viele Sandkörner kleben an deinen Fingern?«
Fassungslos starrte er in seine Hand. »Was weiß ich! Hundert? Zweihundert? Keine Ahnung.«
»Das verschafft uns Zeit. Puste sie zu den Wächtern hin.«
Er schüttelte den Kopf, gehorchte aber. Nach einem tiefen Atemzug blies er kräftig über die Handfläche hinweg.
Sobald die an der Haut klebenden Körnchen sich lösten, schossen sie wie Pistolenkugeln davon, wuchsen im Flug zu Murmelgröße heran und prasselten auf die Hyänenschweine ein. Es war wieder einmal kein schöner Anblick.
»Die Nächsten sind schon im Anmarsch. Gleich noch eine Salve«, verlangte Orla.
Trotzig blies er abermals über die flache Hand hinweg und weitere Wächter wurden niedergestreckt. Angewidert wandte er sich ab – und riss entsetzt die Augen auf. »Nein!«
Die Illúsierin drehte sich ebenfalls um. »O, o!«
Von Norden eilte ein Tross von mindestens einhundert Hyänenschweinen herbei. Fast lautlos stürmte er über den Strand. Leo und Orla hatten sich sosehr von der lärmenden Rotte im Süden ablenken lassen, dass ihnen diese viel größere Bedrohung erst jetzt auffiel.
»Mein Sand ist alle. Nur, falls du fragst«, sagte Leo. Ihm war schwindelig vor Angst.
»Verdammt, ich hänge fest!«, hörte er seinen Freund fluchen. Das Wasser hatte dessen Füße erreicht. Weil er nicht einsank, war er darauf ausgerutscht und hinter dem Boot verschwunden.
»Steh sofort auf!«, rief Orla. »Wie’s scheint, müssen wir jetzt doch auf der Insel herumhüpfen.«
Bennos raspelkurzer Haarschopf tauchte wieder auf, dann sein Gesicht. Es war vor Anstrengung knallrot. Plötzlich ging ein Ruck durchs Kanu. Er schrie und fiel abermals hin.
Leo und das Mädchen warfen die Köpfe herum.
In der Wasserrinne schwammen zwei große Fische. Oder Wale? Jedenfalls hatten die Tiere ihre Schnäbel in die Schlaufen der Taue gesteckt und zogen das Auslegerboot samt seinem protestierenden Anhängsel auf die offene See zu.
»Atnam und Batoi!«, jubelte Orla.
Die Hyänenschweine brüllten vor unbändigem Zorn. Einige schleuderten ihre Äxte, doch sie waren noch zu weit entfernt. Ein besonders großer Wächter löste sich aus dem Verband und eilte seinen Artgenossen voraus.
»Schneller, meine Freunde!«, feuerte das Mädchen die Meeresbewohner an.
»Das sind deine Freunde?«, staunte Leo. Er war auf dem Weg zum Heck, um Benno zu helfen. Sein banger Blick pendelte zwischen den wütenden Bestien und dem Schilfwald.
»Ja. Es sind Spürwale. Traumgeborene. Wir sind gerettet …«
Eine Axt bohrte sich krachend in den Bootsrumpf. Das große Hyänenschwein zückte einen Krummdolch und fauchte wild.
»Jetzt reicht’s aber«, schrie Leo.
Orla hob das Schwert und schickte sich an, aus dem dahingleitenden Boot zu springen.
»Warte!«, hielt er sie zurück, schloss die Augen und beschwor aus dem Quell seiner Fantasie ein Bild herauf. Als er sie
wieder öffnete, war die Verwandlung der Trompetenrohre bereits in vollem Gange. Aus den Halmen wurden Giftschlangen, die Blätter formten sich zu Flügeln. Jedes Reptil hatte mehrere Paare davon. Schnell wie Libellen schossen
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