Das Geheimnis Des Amuletts
»Wieso hat sie dich damals bewacht?«
Helen schluckte nervös. »Ich weiß es nicht, ehrlich. Aber beschützen die Wächter nicht alles unschuldige Leben, das in Gefahr ist? Ich war jung und verlassen; vielleicht hat das genügt.«
»Oder vielleicht wusste Miss Scratton etwas«, gab Evie zu bedenken. »Vielleicht wusste sie, dass du eines Tages mit dem Mystischen Weg verbunden sein würdest.«
»Ihre Hilfe benötigen würdest«, fügte ich hinzu.
»Wieso hat sie mich dann nicht aus diesem Loch rausgeholt, wenn sie mir so unbedingt helfen wollte?«, antwortete Helen mit einer Spur Bitterkeit. »Das hätte mehr gebracht, als viel Aufhebens um eine Brosche zu machen.«
»Aber du hast gerade selbst gesagt, dass sie unbekannte Kräfte in sich bergen könnte«, sagte ich. »Diese Brosche, dieses Siegel oder was immer es ist, könnte schrecklich wichtig werden. Können wir noch einmal einen Blick darauf werfen?«
Wieder schien Helen zu zögern, aber dann griff sie unter ihren Pullover, machte die Brosche ab und legte sie auf den polierten Bibliothekstisch. Die kreisförmige Einfassung glänzte golden, und die beiden geschwungenen Schemen, die darüber lagen – ich konnte nie ganz entscheiden, ob es Flügel oder Dolche waren –, schienen irgendeine geheimnisvolle Bedeutung zu haben.
»Ich habe es schon einmal gesehen«, sagte ich leise. »Ich habe es auf Miss Scrattons Arm gesehen, in der Nacht, als sie von Rowena Dalrymple angegriffen wurde.«
Helen riss den Kopf herum. »Miss Scratton? Das wusste ich nicht.«
»Es ist wahr. Sie ist irgendwie damit verbunden.«
Evie sah mich ebenfalls überrascht an. »Wieso hast du uns das nicht erzählt?«
»Ich weiß es nicht – es war nicht der richtige Zeitpunkt. Aber jetzt scheint es mir wichtig zu sein. Was denkst du, Helen?«
Helen starrte das Siegel an und flüsterte: »Die Person, die dieses Siegel annimmt, wird niemals heiraten oder Kinder haben oder alt werden oder wirklich sterben.« Sie sah uns mit großen, erschreckten Augen an. »Bedeutet das, dass sie auch niemals richtig leben wird?«
»Helen …«
»Miss Scratton ist nicht tot«, sprach sie so leise weiter, dass ich mich anstrengen musste, um sie überhaupt zu verstehen. »Ihre sterbliche Hülle, die sie wie ein Kleidungsstück getragen hat, ist zerstört worden, das ist alles. Zumindest glaube ich das. Agnes ist gestorben und ruht in Frieden. Die Verbindung unserer Schwesternschaft gestattet es manchmal einem Widerhall ihrer Erinnerung durch das Fenster zu gehen, das zwischen den Welten ist, und zu uns zu sprechen, aber Agnes selbst kann nie wieder leben. Ihre Zeit hier ist beendet. Das ist bei Miss Scratton anders. In der Nacht, als sie von uns gegangen ist, hat sie etwas zu mir gesagt. Ich glaube, dass ein Wächter oder eine Wächterin einen neuen Körper erhält, als wäre er ein Gastgeber für ihren Geist. Sie wird wiedergeboren, und ihre Arbeit auf dieser Welt geht weiter, bis in alle Ewigkeit, bis das Auge der Zeit sich nach innen wendet und nicht mehr existiert.«
»Was macht dich da so sicher?«, wollte Evie wissen.
Helen zuckte mit den Schultern. »Ich denke schon seit langem über alles nach, und ich frage mich … ihr seid nicht die Einzigen, die etwas über das Siegel wissen wollen.« Sie sah auf, als würde sie in die Zukunft sehen. »Ich bin damit gezeichnet. Und ich weiß nicht, ob ich das möchte.« Dann nahm sie plötzlich meine Hand und umklammerte sie. »Sarah, du weißt nicht, was deine Güte für mich bedeutet. Aber wenn du betonst, dass ich erstaunlich und unglaublich bin, ist dir da nie in den Sinn gekommen, dass ich in Wirklichkeit vielleicht einfach nur ganz gewöhnlich sein will? So normal – und so wunderbar – wie das Tageslicht?«
»Tut mir leid, Helen, aber gewöhnlich gehört zu den Dingen, die du niemals sein wirst«, antwortete ich. »Wunderbar vielleicht, aber nicht gewöhnlich.«
Sie ließ meine Hand los. »Ich hoffe, du irrst dich.« Ihre Stimme klang schmerzhaft traurig.
»Versuchen wir das mal logisch anzugehen«, sagte Evie nach einer Pause. »Wenn Miss Scratton das gleiche Zeichen hat wie Helen und die Brosche von Helens Mutter stammt, dann muss es eine Verbindung zwischen den dreien geben, oder?«
»Nein! Das ist unmöglich! Hört einfach auf damit!« Helen nahm ihre Brosche wieder auf, erhob sich und ging weg, ließ ihre Bücher zurück und überließ es uns, schweigend über ihre Worte nachzudenken.
Es war klar, dass Helen nervös und unruhig war,
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