Das Geheimnis Des Amuletts
während wir ungeduldig darauf warteten, dass der alte Mond verschwand und der neue aufging. Aber trotz ihrer Sorge um das Siegel, trotz ihrer Unruhe, das zu erfüllen, was wir Laura versprochen hatten, und ihrer zunehmenden Angst vor Dr. Franzen, erlebte Helen tatsächlich etwas Neues und Grundlegendes. Etwas, das sie sich niemals zu erhoffen gewagt hatte, außer in ihren Träumen.
Wir wussten es damals noch nicht, aber diese paar Wochen des Wartens sollten sich in Helen Blacks kurzem Leben als die glücklichsten überhaupt erweisen.
Einundzwanzig
Aus dem Tagebuch von Helen Black
25. Oktober
Ich dachte, ich könnte alles ignorieren, was Lynton gesagt hatte, und nur für meine Schwestern leben, für meine Mutter, für die Pflicht. So lange hatte ich gedacht, dass ich dazu verdammt war, ohne Glück zu leben. Aber jetzt – oh, alles fühlte sich so anders an! Jetzt möchte ich glücklich sein, und zum ersten Mal begann ich daran zu zweifeln, dass mein Glück im Mystischen Weg lag.
Meine Mutter hatte das Siegel angeboten bekommen und das, wofür es stand, zurückgewiesen. Jetzt habe ich es geerbt. Habe ich ebenfalls die Möglichkeit zur Wahl geerbt? Hatte auch Miss Scratton – oder wie immer ihr wahrer Name lautet – diese Wahl angeboten bekommen? Oder war sie als Wächterin geboren worden? Genau das hatte ich immer geglaubt. Aber ich wusste so wenig mit Sicherheit! Ich wusste nicht einmal, dass sie auch dieses Zeichen getragen hatte. Vielleicht war das Zeichen auf meinem Arm lediglich ein Schatten von ihrem, ein Schutz vor meiner Mutter. Vielleicht war das Siegel ein Teil ihrer Geschichte und nicht meiner.
Miss Scratton ist nicht tot; das ist das Einzige, dessen ich ganz sicher bin. Ich habe versucht, es den anderen zu erklären. Unsere Wächterin hat im letzten Term , als sie von uns gegangen ist, etwas zu mir gesagt, so leise, dass nur ich es hören konnte. »Es beginnt alles von Neuem«, hatte sie gesagt.
Es beginnt alles von Neuem. Alles wird wiedergeboren. Das Leben geht in einem niemals endenden Kreislauf weiter. Ich habe nie gesehen, welche Zukunft ich in dieser Welt hätte haben können. Aber jetzt – vielleicht habe ich jetzt einen Grund zu bleiben. Wenn ich darüber geschrieben oder davon gesprochen habe, dass ich frei sein wollte, glaube ich inzwischen, dass es in Wirklichkeit eine Ausrede dafür war, wegzulaufen und dem Leben auszuweichen. Manchmal wollte ich sogar sterben. Jetzt will ich noch einmal von vorn anfangen, und ich möchte es besser machen. Ich möchte mich nicht in Geheimnissen verlieren, in selbstzerstörerischen Gedanken. Ich möchte leben, und das alles nur seinetwegen. Zuvor hatte ich einfach nur gewollt, dass möglichst schnell Neumond ist. Jetzt wünschte ich, dass die Erde stillstehen würde, und dass die Wartezeit, meine geheimen Tage mit Lynton, für immer andauern könnten …
Zuerst sah es so aus, als müssten wir nichts anderes tun, als ungeduldig auf den Neumond zu warten, und dann würden Kundar und sein Volk uns den Pfad der Erde zeigen, den wir beschreiten mussten. Was die Frage betraf, was wir eigentlich tun mussten, um Laura zu helfen, wenn Kundar uns zum Auge der Zeit brachte, so vertraute ich einfach den Kräften, die uns leiteten. Sarah und Evie hingegen gingen auf der Suche nach Inspiration die Buchseiten durch und unterhielten sich endlos mit Josh und Cal. Sarah fragte Cal, ob er irgendwelche Überlieferungen und Totenrituale der Roma kannte, die vielleicht helfen könnten, Lauras Seele Frieden zu bringen. Sie und Evie schlichen sich in die Höhle, um dort Beschwörungen und Anrufungen zu üben, wie wir es in den ersten Tagen unserer Schwesternschaft getan hatten. Ich wollte dabei allerdings nicht mitmachen. Denn ich wurde die ganze Zeit von verborgener Musik heimgesucht, und ich sah zwei lachende blaue Augen. Ich dachte nicht an Laura. Mehr als alles andere sehnte ich mich danach, Lynton wiederzusehen.
Ich hing vor dem Musikzimmer herum wie jeder andere verliebte Teenager, dann sagte ich mir, dass ich mich lächerlich machte. Ich versuchte, alles zu vergessen, das mit ihm zusammenhing, während ich mich durch den erstickenden Schulalltag quälte. Unterricht, Spiele, Gebete, Chor – die ganze trostlose Tretmühle von Wyldcliffe, die sich seit hundert Jahren im Kreis drehte.
Eines Morgens hielt ich es nicht länger aus. Ich entschuldigte mich vom Französischunterricht mit der Begründung, dass ich Kopfschmerzen bekommen hätte, und es gelang mir, mich in
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