Das Geheimnis des Falken
verabschiedete mich und bedankte mich bei ihr. Wofür ich mich eigentlich bedankte, war mir nicht ganz klar. Vielleicht für eine Erleuchtung …
Vielleicht glich der Sonnenstrahl, der auf mein Gesicht fiel, als ich mich nach Westen wandte und an den Badehütten vorbei den Strand hinauf wanderte, dem Blitz, der Saul auf seinem Wege nach Damaskus traf. Mit einemmal begriff ich. Plötzlich war mir klar, was der Brief meines Vaters zu bedeuten hatte und die doppelte Eintragung im Taufregister von Ruffano. Auch Aldo war ein Findling gewesen. Der Sohn meiner Eltern war gestorben, und Luigi Speca hatte ihnen Aldo geschenkt. Marta hatte letzten November das Geheimnis preisgegeben, das fast vierzig Jahre lang bewahrt worden war.
Aldo, stolz auf seine Herkunft, stolz auf sein Erbe, stolz auf tausend Dinge, die er mehr liebte als alles auf der Welt, mußte die Wahrheit erfahren und hatte sie diese letzten fünf Monate mit sich herumgetragen.
Es war Aldo gewesen, der bloßgestellt und vergewaltigt worden war, Aldo, der das Gesicht verloren hatte, nicht vor seinen Freunden, die nichts ahnten, sondern vor sich selbst. Ihm, der den andern Streiche spielte, ihm war der schlimmste Streich gespielt worden. Er, der die Heuchler demaskieren wollte, war selber demaskiert worden.
Ich ging am Kanal entlang, aber nicht zum Boot, sondern in entgegengesetzter Richtung, in die Stadt. Meine paar Habseligkeiten befanden sich an Bord der ›Garibaldi‹, aber das war mir gleichgültig. Ich wollte nur eines. Ich wollte zu Aldo zurück. Irgendwo in Fano mußte es schließlich einen Zug oder einen Autobus geben, der mich nach Ruffano zurückbringen würde. Morgen war das Festival, und ich mußte bei Aldo sein, wenn der Falke zu Fall kam.
21. Kapitel
An der Autobushaltestelle auf der Piazza 20 Settembre stellte ich fest, daß sich in meiner Brieftasche nur 2.000 Lire befanden. Ich hätte heute morgen zum Sekretär der Universität gehen und mir den Lohn für meine Arbeit in der Bibliothek auszahlen lassen müssen. Statt dessen hatte ich Signora Butali einen Besuch abgestattet und mich dann in Carla Raspas Wohnung versteckt. Dabei schuldete ich Signora Silvana das ganze Pensionsgeld. Aber vielleicht hatte Aldo daran gedacht.
Ein Taxi nach Ruffano würde mehr als 2.000 Lire kosten. So erkundigte ich mich an der Bushaltestelle und ließ mir sagen, der letzte Autobus nach Ruffano sei um fünfzehn Uhr dreißig abgefahren. Allerdings gebe es einen Bus, der gleich nach Pesaro starte, und da Pesaro diverse Kilometer näher bei Ruffano lag als Fano, löste ich ein Billet.
Von der Brücke, die über den Kanal führte, schaute ich rechts zum Bootshafen hinunter und dachte an Marco, den Partisanen, und seinen Kumpel Franco, die den Motor in Ordnung zu bringen versuchten und darauf warteten, daß ich zu ihnen stieß. Wenn ich nicht auftauchte, würden sie in der Stadt nach mir suchen, in Bars und Cafés herumfragen, und dann würde Marco telefonieren und Aldo mitteilen, daß ich verschwunden war.
Ich versuchte, mir einen Plan zurechtzulegen. Ich war mir klar darüber, daß Marco, wenn er Aldo tatsächlich anrief, Befehl erhalten würde, seine Nachforschungen über Fano hinaus auszudehnen.
Und Cesare würde Aldo auf Befragen meine Botschaft übermitteln …
Inzwischen war mir der Sinn des Zitats aus dem deutschen Buch noch deutlicher geworden als während meiner Überlegungen in Jacopos Küche. Wenn Aldo Martas Mörder war, so nicht deshalb, weil sie seine mutmaßliche Beziehung zu Signora Butali zu verraten, sondern weil sie das Geheimnis seiner Geburt preiszugeben drohte: Der Direktor des Kunstrats war nicht ein Sohn des Hauses Donati, sondern ein Findling, der Letzte der Bürger Ruffanos. Das bedeutete in Aldos Augen Demütigung und Schande.
Ich wollte Aldo sagen, daß ich ihn verstand und daß das alles für mich keinen Unterschied machte. Daß er mein Bruder war, nach wie vor und immerdar, daß ihm gehörte, was mir gehörte. Als Kind hatte er mich bald mit Zärtlichkeiten überhäuft und bald gequält. Als Mann tat er dasselbe. Aber heute wußte ich etwas, das ich früher nicht gewußt hatte, daß er verletzlich war. Und darum würden wir uns endlich auf der gleichen Ebene begegnen.
Die zwölf Kilometer bis Pesaro waren schnell bewältigt. Ich kletterte aus dem Bus und studierte die Verbindung nach Ruffano. Es gab einen Bus um halb sechs. Das bedeutete, daß ich genau eine Stunde zu warten hatte. Ich begann die Straße hinunterzuwandern, die
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