Das Geheimnis des Falken
nicht erlauben«, sagte die Nonne, »aber warum eigentlich nicht? Sie haben so wenig Freude.«
Ein kleiner Junge, der sich den Zeh gestoßen hatte, brach in Tränen aus und kam den Strand zu ihr heraufgelaufen, und sie nahm das Kind in die Arme, tröstete es, kramte ein Pflaster irgendwo aus ihrer geräumigen Garderobe, klebte es auf den Zeh und schickte den Kleinen zurück zu den anderen.
»Dies ist mir das liebste bei meiner Arbeit«, gestand sie, »die Kinder ans Meer zu bringen. Die Schwestern der verschiedenen Organisationen wechseln dabei ab. Ich habe es nicht weit bis hierher. Ich bin aus Ruffano.«
Wie klein war die Welt! Mir stand das düstere Gebäude neben dem im Glanz seiner Neuheit erstrahlenden Hotel Panoramica deutlich, fast greifbar, vor Augen.
»Vom Waisenhaus?« fragte ich. »Ich kenne es. Ich habe auch in Ruffano gelebt, aber das ist schon lange her. Von innen habe ich das Haus nie gesehen.«
»Das Haus muß umgebaut werden«, sagte sie, »und vielleicht müssen wir ganz und gar hinaus. Es ist die Rede davon, uns eine neue Bleibe in Ancona einzurichten, wo unser letzter Vorsteher gestorben ist.«
Wir standen friedlich beisammen und schauten zu, wie die Kinder sich fröhlich bespritzten.
»Sind Sie alle Vollwaisen?« fragte ich und dachte an Cesare.
»Ja, alle«, sagte die Nonne. »Entweder elternlos oder ein paar Stunden nach der Geburt auf den Treppen des Heimes ausgesetzt. Mitunter auch sind die Mütter zu schwach, um sich weiter fortzuschleppen, und wir finden sie und kümmern uns um beide, Mutter und Kind. Eines Tages geht die Frau dann wieder zur Arbeit, und das Baby bleibt in unserer Obhut. Und manchmal, aber das kommt selten vor, gelingt es auch, eine Bleibe für beide zu finden, eine Familie, die das Kind adoptiert.«
Sie hob die Hand und bedeutete den Kleinen, sich nicht zu weit hinauszuwagen.
»Das ist natürlich die beste Lösung für Mutter und Kind«, fuhr sie fort. »Aber heutzutage finden sich die Leute nur sehr selten bereit, einen Findling aufzunehmen. Gelegentlich allerdings meldet sich ein junges Paar, das das erste Kind bei der Geburt verloren hat und ein anderes an seiner Stelle annehmen und wie sein eigenes aufziehen möchte.«
Durch ihre Brillengläser schaute sie mich lächelnd an.
»Aber das setzt natürlich ein Vertrauensverhältnis zwischen den Eltern, die das Kind verloren haben, und dem jeweiligen Leiter des Waisenhauses voraus. Die Akte wird übrigens streng geheim gehalten, im Interesse der Eltern wie des Adoptivkindes.«
»Ja«, sagte ich, »ja, das leuchtet mir ein.«
Sie holte eine Trillerpfeife aus irgendeiner der unergründlichen Taschen ihres Kleides hervor und pfiff zweimal. Die Kinder wandten die Köpfe, schauten und stürzten aus dem Wasser den Strand herauf auf sie zu, herumtollend und sich jagend wie junge Hündchen.
Sie lachte. »Sehen Sie, wie ich sie an der Strippe habe«, sagte sie.
Ich blickte auf die Uhr. Ich war auch an der Strippe. Die Uhr zeigte kurz vor vier. Ich machte mich wohl besser auf den Weg zur ›Garibaldi‹ und bezog dort meinen Posten.
»Wenn Sie auch aus Ruffano stammen«, sagte die Nonne, »sollten Sie wirklich einmal vorbeischauen und sich die Kinder im Heim ansehen. Nicht diese hier, natürlich, sondern die, die ich in Ruffano versorge.«
»Vielen Dank, das werde ich vielleicht einmal tun«, log ich höflich und fragte, wiederum eher aus Höflichkeit als aus Neugier: »Werden Sie mit nach Ancona gehen, falls man sich entschließt, dort zu bauen?«
»O ja«, sagte sie, »ich lebe nur für die Kinder. Vor fünfzig Jahren oder so war ich auch ein Findling.«
Mich überkam eine Art Mitleid. Diese einfache, zufriedene Frau hatte nie ein anderes Leben gekannt, nie eine andere Welt gesehen. Sie und Hunderte von anderen Kindern waren eines Tages, vor fünfzig Jahren, auf eine Türschwelle gelegt und dem Erbarmen fremder Menschen überantwortet worden.
»In Ruffano?« fragte ich.
»Ja«, sagte sie, »und damals hatte unsereins es schwerer als heute. Die Vorschriften waren sehr streng, das Leben war spartanisch. Damals gab es keine Ferien am Meer für Waisenkinder, obwohl der Vorsteher, Luigi Speca, ein Mann von großer Güte war.«
Die Kinder kamen heran, und sie versammelte sie in einem Halbkreis um sich herum, indem sie aus einer Reisetasche Apfelsinen und Äpfel hervorzauberte.
»Luigi Speca?« wiederholte ich.
»Ja«, sagte sie, »aber er ist schon lange tot. Er wurde, wie gesagt, in Ancona begraben.«
Ich
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