Das Geheimnis des Falken
bezweifeln, daß mich selbst Aldo in diesem Aufzug erkennen würde. Ich sah aus wie ein Emigrant, der gerade an Amerikas Küsten gelandet und schon zum Halbbarbaren geworden war. Fehlte nur das Schnappmesser.
»Sie sehen fabelhaft aus«, sagte Caterina und drückte meine Hand. »Viel besser als vorher.«
»Jetzt sind Sie ein Typ«, stimmte Gino zu, »vorher waren Sie gar nichts.«
Ihr Applaus verwirrte und entmutigte mich. Wenn das Subjekt, in das ich mich verwandelt hatte, ihrem Geschmack entsprach, was in aller Welt hatten wir dann gemeinsam? Oder wollten sie nur nett zu mir sein?
»Wir werden das Unternehmen hier noch etwas ausdehnen«, sagte Paolo. »Es besteht keine Veranlassung, vor. Einbruch der Dunkelheit nach Ruffano zurückzufahren. Caterina kann einen späteren Bus nehmen, und Armino kommt mit auf meine Vespa. Wir werden neben dem Bus herfahren. Laßt uns sehen, ob der Sportpalast offen ist. Wir treffen uns dort, Caterina!«
Wieder stieg ich hinter Paolo auf die Vespa und hatte während der nächsten Stunden, vom Sonnenuntergang bis zum Dunkelwerden, das zweifelhafte Vergnügen, meine Freizeit auf studentische Art zu genießen. Wir rasten den Strand hinauf und hinunter, ebenso die Via Trieste, bald Seite an Seite mit Gino und Mario, bald Touristenautos jagend. Wir beehrten die Cafés mit der lautesten Radiomusik und die überfülltesten Bars, bis wir in einem Restaurant landeten, wo wir uns kübelweise ›brodetto‹ zu Gemüte führten, eine mit Safran und Knoblauch gewürzte Fischsuppe, die Marta in meiner Kinderzeit sehr oft für mich gekocht hatte.
Als es auf neun ging, brachten wir Caterina, die immer noch meine Kleider mit sich herumschleppte, zu ihrem Autobus und fuhren – indem wir uns, sehr zum Ärger des Fahrers wie auch des Schaffners, beiderseits des Busses hielten – nach Ruffano zurück.
Was mich dort erwartete, war mir mittlerweile gleichgültig. Seit fünf Stunden, seit meinem Spaziergang am Strande von Fano, machte ich mir keine Gedanken mehr. Ich hielt mich an Paolos Gürtel fest, und wie Vorreiter sausten und kurvten wir, dem Bus voran, durch die Hügel hindurch. Dann stieg, gleich einer Himmelsstadt, Ruffano vor uns auf, mit tausend blinkenden Lichtern. Dom und Campanile, die beide angestrahlt waren, schienen – auf der Mitte zwischen den beiden Hügeln – einen weißen Glanz auszustrahlen.
Von hier aus, von Osten gesehen, verbarg sich der Palazzo Ducale hinter anderen Gebäuden, aber ein blasser Widerschein am Himmel verriet seine Existenz und auch die der Universität, während das Licht auf dem Abhang direkt gegenüber von unserem alten Hause kommen mußte, wo die Butalis und vielleicht auch Aldo gerade zu Abend essen mochten.
Von einem jener Fenster, das ich im Augenblick nicht von seinen Nachbarn unterscheiden konnte, hatten Aldo und ich oft über das Tal geblickt und uns denen, die drunten in den Bauernhäusern wohnten, turmhoch überlegen gefühlt.
Als mir das einfiel – wir näherten uns schon der Porta di Malebranche –, schaute ich instinktiv zu der geraden, monotonen Lampenreihe hinüber, die zum Waisenhaus auf dem nördlichen Hügel gehörte. In jenem kalten Gebäude hätte Aldo, verlassen und unerwünscht, seine Kindheit verbracht, wenn nicht mein Vater und Luigi Speca gewesen wären. Dort hätte er in grauem Kittel, mit kurzgeschorenem Haar als Findelkind gelebt. Dort wäre er – unter einem anderen Namen – herangewachsen. Und ich, der einzige Sohn meiner Eltern, ein Nachkömmling, wäre auf den Namen Aldo getauft worden.
Auch ich hätte mich anders entwickelt. Ich wäre nicht in Aldos Schatten groß geworden, furchtsam, völlig verschüchtert, ihm aufs Wort gehorchend. Mein ganzes Leben hätte einen anderen Lauf genommen. Wir fuhren unter der Porta di Malebranche hindurch, und ich wußte plötzlich, daß ich es gar nicht anders haben wollte. Er mochte nicht mein Bruder, nicht der Sohn meiner Eltern sein, aber er hatte mich von Anbeginn beherrscht, Seele, Geist und Leib, und er beherrschte mich noch. Er war mein Gott, und er war mein Teufel. In all den Jahren, da ich ihn tot geglaubt hatte, war meine Welt leer und ohne Sinn gewesen.
Kurz hinter dem Tor hielt der Bus mit kreischenden Bremsen. Dann rumpelte er den Hügel zur Piazza Matrice hinauf. Paolo und ich sausten auf unserer Vespa vorbei zur Piazza Carlo. Auf dem Schauplatz des Dramas vom Dienstag stand Herzog Carlo immer noch angestrahlt auf seinem Piedestal und schaute wohlwollend auf die
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