Das Geheimnis des Falken
Impuls die Wahrheit preisgab.
»Nun? War das Mord?« fragte Aldo. »Oder etwa nicht?«
Aber ich dachte gar nicht mehr an seine Verbindung mit Marta. Ich dachte an meine eigene Mutter, die in Turin an Krebs gestorben war. Als sie mir ein paar gekritzelte Zeilen aus dem Krankenhaus schickte, hatte ich nicht geantwortet.
»Ja«, sagte ich, »es war Mord. Wir sind beide schuldig, du und ich, und aus dem gleichen Grund.«
Wir blickten hinunter auf die begeisterte Menge. Der Ruf »Donati … evviva Donati« galt keinem von uns beiden. Er galt einer legendären Gestalt, die die Studenten und die Bürger von Ruffano in ihrer Phantasie erschaffen hatten und die geboren war aus dem Wunsch aller Menschen, etwas zu verehren, das größer ist als sie selbst.
»Die Flucht oder vielmehr der Flug des Falken ist vorüber«, sagte ich. »Mach ihnen das klar.«
»Bisher ist gar nichts vorüber«, sagte er. »Der Flug steht noch aus. In den Hügeln geprobt, wie die Wagenfahrt.«
Er kroch um die schmale Balustrade herum und langte nach etwas Langem, Schmalem, Silbrigem aus ungezählten Federn, die im Winde vibrierten. Die Federn waren auf Seide genäht, auf Fallschirmseide. Unter der Seide verbarg sich ein vielfach verzahntes Fibergerüst. Von der Mitte des Ganzen hingen Schnüre herab, die eine Art Harnisch bildeten. Aldo faltete den Apparat aus Federn auseinander, und ich sah, daß es sich um Flügel handelte.
»Es ist kein Trick dabei«, sagte Aldo. »Wir haben fast den ganzen Winter hieran gearbeitet. Und wenn ich sage wir, meine ich ehemalige Partisanenfreunde, die heute Segelflieger sind. Diese Flügel sind aufgrund einer bestimmten Formel entworfen, die der Konstruktion richtiger Falkenflügel entspricht. Wir haben die Flügel, wie gesagt, draußen in den Hügeln ausprobiert, und ich kann nur sagen, daß die Flügel mir weniger Angst machen.«
Er stand da und lachte mich an. Nun, da die Flügel ausgebreitet waren, konnte ich die Vorrichtung für die Unterbringung von Armen und Händen sehen und auch, daß der Brustpanzer aus gewirkten Riemen bestand und einem Vogelkörper genau nachgebildet war und daß es besondere Riemen für die Füße gab.
»Während des letzten Fluges«, sagte Aldo, »fühlte ich mich zehn Minuten lang wirklich wie ein Geschöpf der Luft. Das war an den westlichen Hängen des Monte Cavallo. Beo, ich sage dir, es gibt nichts Schöneres! Und der Mechanismus kann gar nicht versagen. Versagen kann lediglich der Mensch. Und nach dem, was ich gerade hinter mich gebracht habe, ist das in meinem Fall nicht wahrscheinlich.«
Er war nicht mehr blaß und wirkte nicht mehr bis zum Äußersten angespannt, wie vor Beginn unserer Fahrt. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht lag, hatte nichts mehr von einer Grimasse. Es war fröhlich. Er hob die Hand, um die Menge unten zu grüßen.
»Die Landung wird vielleicht unangenehm sein«, sagte Aldo, »aber nicht der Flug. Ich möchte über die Piazza hinwegfliegen und auf dem sehr viel weicheren Boden am Talhang aufsetzen. Wenn ich die Reißleinen löse, öffnet sich der Fallschirm hinter den Flügeln und tritt als Bremse in Aktion. Als ich in den Hügeln übte, hat man mir gesagt, daß die Landung selbst der eines zerknitterten Papierdrachens ähnlich sähe. Aber man kann nie wissen. Vielleicht komme ich diesmal weiter.«
Aus seinen Worten sprach ein großartiger Hochmut. Er schaute zu den Hügeln in der Ferne hinüber und lächelte.
»Aldo, tu es nicht«, sagte ich. »Es ist Wahnsinn. Es ist Selbstmord.«
Er hörte mich gar nicht. Es kümmerte ihn nicht, was ich sagte. Er hatte den Glauben aller Fanatiker, die – die Jahrhunderte haben es bewiesen – durch eben diesen Glauben zu Fall kommen. Nur der Tod konnte sein Schicksal sein, wie er das Schicksal Herzog Claudios geworden war. Er begann sich den Harnisch um die Taille zu schnallen, die Bindungen an seinen Schultern zu befestigen und in die Fußhüllen zu schlüpfen. Dann steckte er die Arme durch das Netzwerk unterhalb der Flügel und breitete sie weit aus. Und plötzlich erschien er mir hilflos, sogar grotesk in seinen geöffneten Schwingen. Er würde sich nie aus den Fesseln lösen können, die ihn banden. Das Fibernetz hob sich schwarz von dem silbernen Überzug ab.
Die Menge, die 90 Meter oder mehr unter uns auf der Piazza del Mercato stand, wurde plötzlich still. Aus den unzähligen emporgereckten Hälsen quoll nicht mehr der Schrei ›Donati‹. Sie schauten und warteten, während die einsame
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