Das Geheimnis des Falken
Piazza hinaus. Schweigen, weiße Stille hüllte mich ein. Im Schnee war eine Fußspur zu sehen, die Spur eines Menschen, erst fest und klar gezeichnet, dann sich verwischend in einer Schneewehe und schließlich ganz verschwunden. Die beißende Kälte drang durch meinen leichten Mantel. Ich hatte mich von den letzten Ausläufern des Winters überraschen lassen, unvorbereitet wie irgendein Tourist.
Ich schaute nach links und schaute nach rechts. In mehr als zwanzig Jahren hatte ich vergessen, daß sich die beiden Hauptstraßen beiderseits der Piazza teilen und dann nahezu senkrecht ihrem Gipfelpunkt zustreben. Ich wandte mich auf gut Glück nach links und ging an dem großen Klotz von San Cipriano vorbei, der mir aus dem Schneetreiben undeutlich entgegenschimmerte. Im gleichen Augenblick aber wußte ich schon, daß ich mich geirrt hatte. Denn die Straße zog sich breit und steil zum Hügel hinauf und würde schließlich auf der nordwestlichen Höhe gegenüber der Statue des Herzogs Carlo münden.
Carlo der Gute, so hatte man ihn genannt, den jüngeren Bruder des wilden Claudio, und er hatte in vierzigjähriger Regierungszeit. Von allen geliebt und geachtet, Palast und Stadt neu aufgebaut und Ruffano groß gemacht. Ich ging zurück zur Piazza und wanderte rechts die enge gewundene Straße hinauf, bis diese sich plötzlich zur Piazza Maggiore hin öffnete, und da stand er in aller seiner Herrlichkeit, der Palazzo Ducale, der Palast meiner Kindheit, meiner Träume, und der fallende Schnee streichelte das zarte Rosa seiner Mauern.
Dumme Tränen brannten in meine Augen. Ich ging weiter, immer noch wie im Traum, und legte die Hand auf die Mauern, die ich kannte. Hier war die Eingangstür zum viereckigen Innenhof, die mein Vater, der Museumsdirektor, benutzte, und Aldo und ich, die aber für die Masse der Besucher streng verschlossen war. Da waren die Stufen, auf denen ich herumzuhüpfen pflegte, und hier, auf der anderen Seite, erhob sich die mächtige Fassade des Domes, den man im 18. Jahrhundert neu erbaut hatte. An der Fontäne auf der Piazza hatten sich Eiszapfen gebildet und hingen wie Kristalle von den Lippen der Bronze-Engel.
Ich pflegte aus der Fontäne zu trinken, im Glauben an eine von Aldos Geschichten, derzufolge ihr klares Wasser alle Reinheit der Welt und große Geheimnisse barg. Aber wenn es solche Geheimnisse gab, so wurde mir keins offenbar.
Ich schaute hinauf zum Dach des Palazzo und sah da oben, über dem Eingang, das große Bronzebild des Falken brüten, der das Wappentier der Malebranche, der Herzogsfamilie war, mit einer Schneehaube auf dem Kopf und mit ausgebreiteten Flügeln.
Dann wandte ich dem Palazzo den Rücken, wanderte vorbei an der Universität, vorbei an der Kirche San Donato und bog dann linkerhand in die Via del Sogni, die Straße der Träume, ein. Nichts regte sich rundum. Diesmal waren es meine eigenen Fußspuren, die sich einsam im frischen Schnee abzeichneten. Als ich zur hohen Mauer kam, die meines Vaters Haus umschloß, und zum kleinen Garten mit dem einen einzigen Baum, kam der Wind messerscharf über die enge Straße geweht, so daß der Schnee, immer noch federleicht, vor mir her stob.
Wieder beschlich mich das sonderbare Gefühl, daß ich ein Gespenst war, das heimkehrte, ein körperloser Geist aus alter Zeit, und daß Aldo und ich dort in dem dunklen Hause lagen und schliefen.
Wir schliefen in einem Zimmer, bis Aldo ein eigener Raum bewilligt wurde. Aber heute drang nicht der kleinste Lichtschimmer durch die geschlossenen Läden, und ich fragte mich, wer da drinnen wohl wohnen mochte, falls das Haus überhaupt bewohnt war. Irgendwie kam es mir ganz verloren vor, und fast vorwurfsvoll sah es mich an. Die Gartenmauer, die mir früher so hoch erschien, war nun niedrig geworden.
Ich schlich davon wie eine verängstigte, herrenlose Katze und nahm, vorbei an San Martino, die Abkürzung der San-Martino-Treppe, die steil abfallend zur Piazza Matrice zurückführt.
Auf meinem Erkundungsgang war mir nicht eine Seele begegnet.
Ich schloß die Hoteltür auf, ging in mein Zimmer und legte mich zu Bett. Hundert Bilder jagten durch meinen Kopf, sich kreuzend und abermals kreuzend, wie Zufahrtsstraßen zu einer Autobahn. Einige Bilder waren sehr klar, andere wieder verschwommen. Die Gegenwart mischte sich mit der Vergangenheit. Meines Vaters Gesicht verschmolz mit Aldos Zügen. Die Uniformen, die sie getragen hatten, als ich sie zum letzten Mal sah – Aldo, neunzehnjährig, mit seinem
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