Das Geheimnis des Falken
aus einem Kriminalroman, während ich ihm folgte.
Wir kamen nur langsam voran, denn er blieb von Zeit zu Zeit stehen, um ein paar Worte mit einem Bekannten zu wechseln, so daß ich mich, mehr und mehr auf meiner Hut, bücken und so tun mußte, als bände ich mir einen Schnürsenkel zu, oder aber verloren um mich schaute, wie ein Tourist, der sich verlaufen hat. Jetzt wäre mir die Kamera der Turtmanns von Nutzen gewesen, um mein Gesicht dahinter zu verstecken.
Er schlenderte weiter und bog am Ende der schmalen Gasse wiederum links ein. Als ich ihn eingeholt hatte, standen wir fast auf Tuchfühlung oben auf der steilen Treppe von Ognissanti, neben dem Oratorium gleichen Namens.
Die Treppe fällt nahezu vertikal ab zur Via del Martiri. Er wollte mir Platz machen.
»Entschuldigung, Signore«, sagte er.
»Ich bitte um Entschuldigung, Signore«, erwiderte ich. »Ich bin einfach meiner Nase nach gegangen. Ich bin fremd in Ruffano.«
Sein schielender Blick hatte immer etwas Verwirrendes gehabt. Auch jetzt war ich im Zweifel, ob er mich ansah oder nicht.
»Die Treppe von Ognissanti«, sagte er, »das Oratorium von Ognissanti.«
»Ja«, sagte ich, »ah so.«
»Möchten Sie das Oratorium besichtigen, Signore?« fragte er, »meine Nachbarin hat den Schlüssel.«
»Ein anderes Mal, Signore«, sagte ich, »bitte, bemühen Sie sich nicht. Es hat sicher keinen Zweck.«
»Von Mühe kann gar keine Rede sein«, sagte er, »sie ist bestimmt zu Hause. Später, wenn die Saison in Gange ist, hält sie das Oratorium zu bestimmten Stunden offen. Im Augenblick lohnt sich das nicht für sie.«
Bevor ich ihn hindern konnte, rief er etwas zum Fenster des kleinen Hauses neben der Kapelle hinauf. Das Fenster tat sich auf, und eine ältere Frau steckte den Kopf heraus. Ghigi, das war's. Das war der Name über dem Laden des Schusters, und unsere Köchin hatte Maria Ghigi geheißen.
»Ein Fremder, der das Oratorium besichtigen möchte«, rief er und wartete, daß sie herunterkam. Das Fenster wurde zugeschlagen. Ich hatte das Gefühl, daß ich ungelegen kam.
»Es tut mir leid, daß ich störe«, sagte ich.
»Ich stehe zu Ihren Diensten«, erwiderte er. Sicher forschten die schielenden Augen in meinem Gesicht. Ich wandte den Kopf ab. Einen Augenblick später ging die Tür auf. Die Frau kam zum Vorschein und wühlte nach ihren Schlüsseln, Sie schloß die Pforte des Oratoriums auf, ließ mich eintreten und folgte mir. Der Schuster desgleichen. Ich schaute mich um und heuchelte Interesse.
Die große Sehenswürdigkeit des Oratoriums ist eine in Wachs modellierte Märtyrergruppe. Ich erinnerte mich, daß man mich als Kind hierher geführt hatte und daß der Aufseher mich damals voller Grimm ausschalt, weil ich versucht hatte, die Figuren anzufassen.
»Sehr schön«, erklärte ich dem Paar, das mich beobachtete.
»Es ist einzigartig«, merkte der Schuster an und fragte dann, als fiele es ihm plötzlich ein: »Sagten der Signore nicht, daß er fremd sei in Ruffano?«
»Ja, ich bin aus Turin«, erwiderte ich, indem ich instinktiv die Stadt nannte, wo mein Stiefvater zu Hause war und wo meine Mutter starb.
»Ach, aus Turin«, sagte er gedehnt, als enttäusche ihn das, und fügte hinzu: »So etwas haben Sie nicht in Turin.«
»Wir haben das Linnen«, belehrte ich ihn, »das Linnen, in das der Erlöser eingehüllt war. Die Spuren des heiligen Leichnams sind noch darauf zu sehen.«
»Das wußte ich nicht«, antwortete er eingeschüchtert. Wir verfielen alle drei in Schweigen. Die Frau rasselte mit ihren Schlüsseln. Ich spürte des Schusters schielenden Blick und wurde nervös.
»Vielen Dank«, sagte ich, »ich denke, ich habe alles gesehen.« Der Frau gab ich hundert Lire, die sie rasch in ihrem umfangreichen Rock verstaute. Dem Schuster schüttelte ich kameradschaftlich die Hand.
»Vielen Dank für Ihre Gefälligkeit«, sagte ich.
»Aber bitte sehr«, sagte er, »nicht der Rede wert.«
Ich nahm an, daß sie mir nachsahen, als ich die Stufen von Ognissanti hinunterging. Vielleicht hatte ich den Schuster an irgend etwas oder an irgend jemanden erinnert, obwohl es eigentlich keine Gründe geben konnte, mich, einen Mann aus Turin, mit einem Kind von zehn Jahren in Verbindung zu bringen. In der Via San Cipriano, unweit der Kirche, entdeckte ich ein kleines Restaurant. Nach dem Essen rauchte ich eine Zigarette. In meinem Kopf hatte sich noch immer kein Plan entwickelt.
Das Restaurant, das es zu meiner Zeit noch nicht gegeben hatte, war
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