Das Geheimnis des Falken
offenbar beliebt, denn es füllte sich schnell, und die Gäste mußten sich in die Tische teilen. In instinktiver Vorsicht holte ich meine Zeitung vor und lehnte sie gegen meine Weinkaraffe.
Da sagte jemand: »Verzeihung, ist dieser Platz wohl noch frei?«
Ich blickte auf. »Aber bitte sehr, Signorina«, sagte ich und rückte beiseite, verärgert durch den plötzlichen Einbruch in meine Überlegungen.
»Ich glaube, ich habe Sie heute früh im Palazzo Ducale gesehen«, sagte die Dame. Ich sah sie befremdet an, entschuldigte mich dann aber sofort. Ich hatte sie wieder erkannt. Es war die Dozentin, die den Schwarm von Studenten durch den Palast geführt hatte.
»Sie haben versucht, uns zu entwischen«, sagte sie, »und ich kann es Ihnen nicht verdenken.« Sie lächelte. Sie hatte ein hübsches Lächeln, obwohl ihr Mund zu groß war. Sie trug das Haar in der Mitte gescheitelt und glatt nach hinten gekämmt. Ihr Alter mochte um die 32 sein. Dicht am linken Auge hatte sie ein großes Muttermal. Manche Männer finden solche Male attraktiv und meinen, sie steigerten die sexuelle Ausstrahlung. Nun, jeder nach seiner Façon …
»Ich, habe nicht versucht, Ihnen zu entwischen, sondern lediglich Ihrer Hörerschaft«, sagte ich.
Nachdem ich soviel mit fremden Nationalitäten, besonders mit Engländern und Amerikanerinnen, zu tun hatte, und immer in untergeordneter Stellung, war ich den Umgang mit den Frauen meines eigenen Landes gar nicht mehr gewohnt. Sie verlangen automatisch, daß man mit ihnen flirtet, und sehen darin nicht mehr als einen Ausdruck normaler Höflichkeit.
»Wenn Sie interessiert gewesen wären, Näheres über die Bilder im Palazzo zu erfahren«, sagte sie, »hätten Sie sich uns nur anzuschließen brauchen.«
»Ich bin kein Student«, sagte ich, »und ich mag nicht als einer unter vielen laufen.«
Sie mußte wissen, daß ich sie im Palazzo kaum angesehen hatte, aber das spielte keine Rolle. Unser Geplänkel gehörte zu den Ehrenbezeugungen, die man ihrem Geschlecht nun einmal schuldig war.
»Vielleicht wäre eine private Führung eher nach Ihrem Geschmack«, sagte sie.
Damit war klargestellt, daß ich während des Essens den Kavalier zu spielen hatte. Na gut! Schließlich brauchte ich nur auf die Uhr zu schauen, wenn ich es satt bekam, und mich mit Zeitmangel zu entschuldigen.
»Das geht den meisten Männern so«, sagte ich, »oder haben Sie andere Erfahrungen gemacht?«
Sie lächelte mir mit Verschwörermiene zu und gab dem Ober ihre Bestellung auf. »Sie haben wahrscheinlich recht«, sagte sie, »aber als Dozentin muß ich meine Arbeit tun. Ich muß mich bei beiden, bei den Jungen wie den Mädchen, beliebt machen und versuchen, Tatsachen in ihre widerspenstigen Hirne zu stopfen.«
»Ist das schwer?«
»Bei den meisten, ja«, erwiderte sie.
Sie hatte kleine Hände. Ich mag Frauen mit kleinen Händen gern. Einen Ring trug sie nicht.
»Was machen Sie speziell?« fragte ich.
»Ich bin an der philosophischen Fakultät als Kunsthistorikerin«, sagte sie, »zwei- bis dreimal in der Woche lese ich vor Studenten des zweiten und dritten Studienjahres. Die im ersten Jahr führe ich, wie heute morgen, zum Palast und zu sonstigen sehenswerten Stätten. Das ist alles recht interessant. Ich bin jetzt schon zwei Jahre hier.«
Der Ober brachte ihr Essen. Ich stellte fest, daß sie es hungrig verschlang.
»Werden Sie gut bezahlt?«
»Was für eine Frage! Noch nie ist irgendein Mitglied irgendeines akademischen Lehrkörpers gut bezahlt worden. Möglich, daß sich das in späteren Zeiten einmal ändert.« Sie blickte zu mir auf und lächelte wieder. »Und Sie?« fragte sie, »sind Sie zu Besuch hier? Wie ein Tourist sehen Sie nicht aus.«
»Ich bin Reiseleiter von Beruf«, sagte ich. »Ich passe auf Touristen auf, so wie Sie auf ihre Studenten.«
Sie schnitt ein Gesicht: »Sind Ihre Schützlinge auch hier in Ruffano?«
»Nein. Heute früh habe ich ihnen glückliche Reise gewünscht.«
»Und nun?«
»Man könnte sagen, daß ich an Angeboten interessiert bin.«
Einen Augenblick erwiderte sie nichts. Sie war mit Essen beschäftigt. Dann schob sie ihren Teller fort und aß den Salat.
»Angebote welcher Art?« fragte sie.
»Machen Sie mir eins, und ich werde mich näher äußern«, antwortete ich.
Sie sah mich nachdenklich an. »Welche Sprachen sprechen Sie?« fragte sie.
»Englisch, Amerikanisch, Deutsch, Französisch. Aber ich habe nie in meinem Leben unterrichtet!«
»Das habe ich auch nicht
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