Das Geheimnis des Falken
allerdings, sondern eine Kreiszeitung. Ich blätterte sie durch, auf der Suche nach den Nachrichten aus Rom, und fand, neben den politischen Meldungen, drei Zeilen über den Mord in der Via Sicilia.
»Die Identität der vor zwei Tagen ermordeten Frau ist noch nicht geklärt. Man nimmt an, daß sie aus der Provinz kam. Ein Lastwagenfahrer sagte aus, daß er hinter Terni eine Frau mitgenommen habe, auf die die Beschreibung der Toten zuträfe. Die Polizei fährt in ihren Ermittlungen fort.«
Wir waren gestern durch Terni gefahren, ehe wir rechts nach Spoleto abbogen. Ein Wanderer, ein Landstreicher, der von Ruffano aus nach Rom unterwegs war, konnte sich freuen, wenn ihm die Möglichkeit geboten wurde, den Rest des Weges im Lastwagen zurückzulegen.
Obwohl die Zeitung es nicht ausdrücklich erwähnte, hatte der Fahrer sich wohl freiwillig gemeldet und die Leiche identifiziert. Inzwischen war die Personenbeschreibung der Ermordeten zweifellos an alle Städte des Landes durchgegeben worden, so daß die Polizei ihre Vermißtenlisten überprüfen konnte. Wenn aber die Tote auf gar keiner Liste stand … Wenn sie, von einem plötzlichen Wandertrieb erfasst, ganz einfach von zu Hause weggegangen war?
Ich konnte mich nicht erinnern, ob Marta Verwandte hatte. Höchstwahrscheinlich nicht. Sie war nach Aldos Geburt in den Dienst meiner Eltern getreten und seither bei uns geblieben. Von Brüdern oder Schwestern hatte sie nie gesprochen. All ihre Liebe, ihr ganzes Leben hatte sie uns geschenkt.
Ich ließ die Zeitung sinken und blickte mich um. Ich entdeckte nicht ein bekanntes Gesicht, nicht einmal unter den Alten; aber das war im Grunde kein Wunder, da ich Ruffano als elfjähriges Kind verlassen hatte.
An dem Tag, da wir, meine Mutter und ich, im Dienstwagen des Kommandanten davonfuhren, war Marta in der Messe. Sie ging jeden Morgen zur Messe. Meine Mutter wußte das natürlich und hatte den Zeitpunkt unseres Abgangs entsprechend festgesetzt.
»Niemand hat eine Ahnung«, erklärte sie mir. »Marta werde ich einen Zettel hinlegen. Sie kann später nachkommen und unsere Sachen mitbringen. Jetzt haben wir keine Zeit, uns um derlei zu kümmern. Der Kommandant muß sofort weg.«
Ich begriff gar nicht, was eigentlich los war. Militärpersonen waren immer im Kommen oder im Gehen. Der Krieg war zwar offensichtlich vorüber, aber es schienen mehr Soldaten herumzulaufen als je zuvor. Deutsche, nicht die unseren. Es ging über meinen Horizont.
»Warum fahren wir mit dem Kommandanten?« fragte ich meine Mutter. Sie wich aus. »Das ist doch unwichtig«, antwortete sie ungeduldig, »solange wir aus Ruffano herauskommen … Und er wird sich um uns kümmern.«
Ich war sicher, daß Marta bestürzt sein würde, wenn sie von der Messe nach Hause kam. Sie wollte vielleicht nicht fortgehen. Sie verabscheute den Kommandanten.
»Glaubst du bestimmt, daß Marta nachkommt?«
»Aber ja, natürlich!«
Und so ging die Reise los, und man schaute aus dem Wagen, grüßte, blickte in die Landschaft, die vorüberglitt, vergaß Marta, wurde hineingeschwatzt in die kommenden Monate mit den neuen Lügen, den neuen Ausflüchten, vergaß, ja, vergaß endgültig. Bis vor zwei Tagen …
Ich ging über den Platz und zur Kirche San Cipriano. Sie war geschlossen. Natürlich war sie geschlossen. Alle Kirchen schlossen am Mittag. Es gehörte zu meinen Aufgaben als Reiseleiter, die Touristen mit dieser Tatsache auszusöhnen. Jetzt mußte ich, wie sie, den Nachmittag abwarten.
Plötzlich entdeckte ich einen Mann, an den ich mich erinnerte. Er stand auf der Piazza und diskutierte mit einer Gruppe von Bekannten. Er schielte, und sein langes, hageres Gesicht sah heute, in fortgeschrittenem Alter, kaum anders aus als damals, 1944. Es handelte sich um den Schuster aus der Via Vittorio Emanuele, der unsere Schuhe zu reparieren pflegte. Seine Schwester Maria, die eine Zeitlang als Köchin bei uns gearbeitet hatte, war eine Freundin von Marta. Dieser Mensch und die Schwester, falls sie noch lebte, waren mit Marta sicher in Verbindung geblieben. Fragte sich nur, wie ich an ihn herankommen konnte, ohne mich zu erkennen zu geben. Ich zündete mir eine zweite Zigarette an und behielt den Mann im Auge.
Als die Debatte abgeflaut war, ging er seines Weges, aber nicht zur Via Vittorio Emanuele, sondern nach links über den Platz hinweg und die Via del Martiri entlang, die er schließlich überquerte, um in eine enge Seitengasse einzubiegen. Ich fühlte mich wie ein Detektiv
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