Das Geheimnis des Falken
erwartet. Irgendwelche Titel?«
»Diplom in modernen Sprachen. Universität Turin.«
»Und warum spielen Sie damit den Reiseleiter?«
»Man kommt herum; die Trinkgelder sind gut.«
Ich bestellte mir noch einen Kaffee. Dieses Gespräch verpflichtete mich schließlich zu nichts.
»Also sind Sie zur Zeit ohne Stellung?« fragte sie.
»Auf eigenen Wunsch. Ich bin nicht entlassen. Ich wollte einfach einmal ein paar Wochen aus der Routine heraus. Wie ich schon sagte, ich bin für Angebote aufgeschlossen.«
Sie war fertig mit ihrem Salat. Ich bot ihr eine meiner Zigaretten an.
»Ich könnte Ihnen unter Umständen behilflich sein«, sagte sie.
Ich schaute sie fragend an. Es war an ihr, den nächsten Zug zu tun.
»Die Sache ist die, daß die Universitätsbibliothek zur Zeit unterbesetzt ist«, sagte sie. »Die Hälfte der Bücherbestände lagert noch in einem Raum im Erdgeschoß des Palazzo. Sie soll späterhin ein neues Quartier zwischen Universität und Studentenheim beziehen. Aber unser schöner Neubau wird nicht vor Ostern eröffnet. Inzwischen regiert das Chaos. Der Bibliothekar, ein guter Freund von mir, könnte eine Extrahilfe gut gebrauchen. Und mit einem Sprachdiplom …« Sie beendete den Satz nicht, gab aber durch eine Geste zu verstehen, daß sich alles übrige leicht regeln lassen würde.
»Das klingt interessant«, sagte ich.
»Ich weiß nicht, was sie zahlen«, baute sie eilig vor. »Viel wird es nicht sein. Und außerdem wäre es, wie gesagt, nur eine Sache auf Zeit. Aber das kommt Ihren Wünschen vielleicht gerade entgegen.«
»Könnte sein.«
Sie rief nach dem Kellner, um ihrerseits einen Kaffee zu bestellen, zog eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche und reichte sie mir. Ich warf einen Blick darauf und las »Carla Raspa, 5, Via San Michele, Ruffano.«
Ich revanchierte mich mit meiner Karte. »Armino Fabbio, Agentur ›Sonnenreisen‹, Turin.«
Sie zog die Augenbrauen ironisch in die Höhe und verstaute die Karte in ihrer Tasche.
›Sonnenreisen‹, sagte sie. »Ich könnte eine gebrauchen. Ruffano ist am Feierabend oft entsetzlich langweilig.«
Sie behielt mich im Auge, während sie ihren Kaffee austrank. »Lassen Sie sich die Sache in aller Ruhe durch den Kopf gehen«, sagte sie dann, »überstürzen Sie nichts. Ich muß jetzt gehen. Ich habe um fünf Vorlesung. Falls Sie einsteigen wollen – nach vier bin ich selbst in der Bibliothek und könnte Sie Giuseppe Fossi vorstellen. Er tut alles für mich. Frisst mir aus der Hand.«
In ihrem Blick konnte man lesen, daß er noch mehr tat. Galant schaute ich ihr in die Augen. Aus Gründen der Courtoisie waren wir beide nun tatsächlich Verschwörer geworden.
»Haben Sie Ihre Papiere bei sich?« fragte sie, während sie aufstand. Ich klopfte auf meine Brusttasche.
»Die trage ich immer mit mir herum«, sagte ich.
»Gut. Also auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Signorina. Und vielen Dank.«
Sie verschwand durch die Tür auf die Straße. Ich sah mir die Karte noch einmal an. Carla Raspa. Der Name paßte zu ihr. Außen hart und innen weich, wie ein neapolitanisches Eis. Der Bibliothekar Giuseppe Fossi dauerte mich.
Doch für mich brachte die Begegnung vielleicht die Lösung meiner Probleme für die nächsten paar Tage; das heißt die Stellung, nicht Carla. Vielleicht würde beides auch Hand in Hand gehen, aber das brauchte ich schließlich erst zu entscheiden, wenn der Augenblick gekommen war.
Ich zahlte und ging mit meinem Bündel auf die Straße. Ich fühlte mich wie eine Schnecke, die die ganze Welt auf ihrem Rücken trägt.
Ich versuchte es noch einmal mit San Cipriano. Diesmal war die Kirche offen. Ich schob mich durch die Tür und ging zum Chor hinauf.
Wie im herzoglichen Palast beschworen vor allem die Gerüche die Vergangenheit herauf. Hier waren die Erinnerungen weniger deutlich, aber düsterer. Stumme Bilder, die mit Sonntagen und Festtagen, mit der Notwendigkeit zu schweigen zusammenhingen und mit einer inneren Unruhe, die zum Ausbruch drängte.
San Cipriano war für mich nicht mit frommen Gefühlen und Gebeten verbunden, nur mit dem intensiven Bewußtsein, winzig klein und von lauter Erwachsenen eingekreist zu sein; mit den unpersönlichen Gesängen der Priester, den Weihrauchschwaden, der Berührung von Aldos Hand, einem plötzlichen Wunsch zu urinieren. Die Kirche war leer, von einem Sakristan abgesehen, der offenbar am Hochaltar mit Kerzen hantierte. Ich wanderte das linke Kirchenschiff entlang. Dabei ging ich
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