Das Geheimnis Des Frühlings
Gold. Zum ersten Mal begriff ich, wieso Malerei manchmal mit Alchemie verglichen wurde. Mit ihren Leimen, Grundierungen, Firnissen und ihren in Tiegeln und Flaschen köchelnden Farben waren Künstler wie Botticelli Brüder im Geiste jener von brennenden Hoff nungen beseelten Apotheker, die versuchten, aus dem Nichts Gold zu schaffen. Die Fülle von Eindrücken drohte mich zu überwältigen, dennoch erkannte ich die Gesichter der Frauengestalten an den Wänden, den Stil ihrer Kleider, ihre Posituren und die Haltung ihrer Hände sofort wieder. Alle neigten ihre schönen Köpfe zu ihren rechten Füßen, während ihr Körpergewicht auf den linken ruhte. Bruder Guido hatte diese Haltung einmal als contrapposto bezeichnet, und ich selbst hatte sie vor nicht allzu langer Zeit in einem luftigen Atelier im fernen Florenz eingenommen.
Der König bestätigte meine Vermutungen. »Wie ich sehe, bewundert Ihr die Fresken, Doña« , sagte er freundlich. »Kein Wunder, denn sie wurden erst kürzlich von einem wahren Zauberkünstler unter den Malern für Seine Heiligkeit geschaffen, einem gewissen Sandro Botticelli.«
Ich spürte, wie jegliche Farbe aus meinem Gesicht wich. Botticelli war hier? Der Urheber all dieses Unheils? Ich dachte daran, wie ich ihn damals verärgert hatte, und stellte ihn mir als
rachsüchtigen Merkur vor, der sich anschickte, mich mit seinem gebogenen Schwert niederzustrecken.
»Ist er noch hier?«, krächzte ich so beiläuflg wie möglich.
»Nein.« (Ich unterdrückte einen erleichterten Seufzer) »Er ist nach Florenz zurückgekehrt. Wir haben ihn leider knapp verpasst, sonst hätte ich Euch mit ihm bekannt gemacht.«
Bruder Guido und ich wechselten einen Blick.
»Ein anderer florentinischer Landsmann von Euch wird in Kürze seinen Platz einnehmen, Michelangelo Buonarroti, der die Giebel und die Decke ausmalen soll.«
Ich bog den Kopf nach hinten und betrachtete die Decke zweifelnd - große quadratische Flächen und Dreiecke zwischen den Streben, die es zu bemalen galt. Madonna. Was für eine Aufgabe!
»Ihr haltet das für unmöglich?« Der König hob eine Braue.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Ich bin ganz Eurer Meinung. Aber wir werden ja sehen.«
Froh darüber, noch einmal davongekommen zu sein, schielte ich zu Bruder Guido hinüber, der mir jedoch keine Beachtung schenkte, sondern auf einen Punkt vor sich starrte. Er hatte von unserem Wortwechsel überhaupt nichts mitbekommen. Ich blickte in dieselbe Richtung wie er und begriff, dass ihn nicht die Größe und Schönheit des Raumes fesselte, sondern der Mann, den wir hier treffen sollten.
Denn ein Stück von uns entfernt saß der Papst vor dem großen Altar; bereit, uns zu empfangen.
Während die Kardinäle den König zu ihm geleiteten und wir ihnen folgten, warf ich meinem Freund einen verstohlenen Blick zu. In diesem Moment war er kein pisanischer Edelmann mehr, sondern wieder ein demütiger Franziskanernovize, der im Begriff stand, vor das Antlitz des Oberhauptes der Kirche zu treten. Er sah aus, als stünde er vor einer Begegnung mit Gott. Meine Lippen krümmten sich zu einem Lächeln, das jedoch erstarb, als mir etwas klar wurde. Bruder Guido, Mönch und Waise, würde gleich den Papst
begrüßen, seinen spirituellen Vater. Der Papst war das einzige Elternteil, das ihm auf dieser Welt geblieben war, die Kirche seine einzige Familie. Wenn ich je mein einziges mir verbliebenes Elternteil kennenlernen sollte, meine vero Madre (was eines Tages der Fall sein wird, denkt an meine Worte), würde ich wahrscheinlich auch dastehen, als hätte mich der Schlag getroffen.
Die Kardinäle blieben vor dem goldenen Altargeländer stehen, und der König und Bruder Guido verneigten sich, während die anderen Höflinge und ich auf der Bank direkt dahinter auf die Knie sanken. Ich folgte dem Beispiel der anderen, spähte aber durch meine gefalteten Finger zu Seiner Heiligkeit, Papst Sixtus, hinüber.
Er saß auf einem goldenen, mit geflügelten Cherubinen und seltsamen Tieren verzierten Thron. Seine Gewänder waren mit so vielen Juwelen besetzt und mit Goldfäden durchwirkt, dass ich die eigentliche Farbe des Stoffes nicht mehr erkennen konnte. Seine Kopfbedeckung war aus rotem und weißem Samt gefertigt und mit Staubperlen gesäumt, darunter saß ein goldener Stirnreif.
Aber unter dieser Krone wies das Gesicht Seiner Heiligkeit unübersehbare Spuren des Alters auf. Die Haut war dünn und knittrig wie Pergament, die blauen Augen blickten trüb
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