Das Geheimnis Des Frühlings
warnen, das die Stadt jedes Frühjahr und jeden Herbst überschwemmte. Und als wir sicher in das Becken von San Marco zurückgekehrt waren und mein weiϐes Gefängnis vor uns aufragte, lieferte er mir die wichtigste Information, die ich bislang aus seinem Mund vernommen hatte. Nachdem er die unvorsichtigen Ausflügler verwünscht hatte, die die Kanäle verstopften, lamentierte er darüber, dass all das in einer Woche noch zehnmal schlimmer sein würde, weil dann jede Gondel und jedes traghetto der Stadt auf dem Canal Grande zu finden sein würde, um Karneval zu feiern. Jedes Jahr veranstaltete die Stadt aus diesem Anlass ein großes Fest, bevor die Entbehrungen der Fastenzeit begangen; vierzehn
Tage lang wurde ausgelassen getrunken, und täglich fand eine Regatta auf dem Kanal statt. Und was alles noch schlimmer machte, klagte er, war der Umstand, dass zu Karneval jeder maskiert und kostümiert war und dem Wein zu reichlich zusprach, sodass die unerfahrenen Seeleute von ihren schweren Kostümen noch zusätzlich behindert wurden, durch die Schlitze ihrer Masken nicht richtig sehen konnten und überdies zumeist betrunken waren. Zahlreiche Feiernde ertranken jedes Jahr, sagte er, fügte aber mit seinem typischen trockenen Humor hinzu, dass es noch längst nicht genug seien. Ich stellte mir vor, wie diese Unglücklichen über Bord fielen und von ihren schweren Samt- und Brokatgewändern in die Tiefe gezogen wurden, dann malte ich mir aus, wie eine Schar prunkvoll gekleideter Skelette, von ihren modischen Schuhen am Boden festgehalten, für immer und ewig ihren gespenstischen Tanz tanzten - ein Unterwasserkarneval der Toten.
Mein Entschluss stand fest.
Sowie ich mich wieder in meiner Kammer befand, schickte ich Marta fort. Sie mochte ja das Werkzeug und die Spionin meiner Mutter sein, aber sie war auch faul und träge und zog sich hastig zurück, da sie mich sicher in meiner Zelle wusste. Ich musste allein sein, um in Ruhe nachdenken zu können. Ich rechnete rasch nach; einige Monate musste ich bereits hier sein, denn der Winter neigte sich dem Ende zu. Mein Herz, das in diesem Schneepalast zu Eis erstarrt war, begann wieder zu tauen - ein kleiner Rubin lebendigen Fleisches brannte in mir wie eine glühende Kohle, verschmolz mit dem Plan, der in meinem Kopf Gestalt annahm, sandte eine wohlige Wärme durch meinen Körper und trieb das Blut in meine Wangen zurück. Mir war schlagartig klar geworden, dass der Karneval, jene Zeit der Masken, des Untertauchens in der Menge und der Täuschungen, der ständigen unbeobachteten Vergnügungsfahrten, der passende Zeitpunkt war, um die Flucht zu ergreifen. Ich hatte vor, die Stadt auf dieselbe Weise zu verlassen wie vor sechzehn Jahren; mit einem Boot bis Marghera
und dann mit einem Pferdekarren bis nach Florenz, wo ich den Mann suchen würde, ohne den ich nicht mehr leben konnte.
Ich wusste, dass ich Hilfe brauchte und mich mit meinem Anliegen nur an meinen Lehrer wenden konnte, denn er war das für mich, was einem Freund am nächsten kam - alle anderen Dienstboten in diesem Palast und sogar mein Vater standen völlig unter der Fuchtel meiner Mutter. Ich wusste auch, dass ich Signore Cristoforo in große Gefahr brachte, wenn ich ihn in meine Pläne einweihte, aber ich konnte an nichts anderes denken als an Bruder Guidos Sicherheit. Ich brauchte einen Bootsführer, der mich aus Venedig herausbrachte; der Februar stand bereits vor der Tür, und Signore Cristoforo kannte jeden Seekundigen in der Stadt, das wusste ich. Ich beschloss, das Thema bei unserer nächsten Unterrichtsstunde zur Sprache zu bringen. An dem betreffenden Tag brachte ich vor Nervosität keinen Bissen herunter, schickte mein Küchenmädchen mit dem unberührten Tablett fort und hatte Mühe, still zu stehen, während ich angekleidet wurde - passenderweise in ein meerblaues Hemd und Gewand, unter dessen Überwurf gischtweiße Ärmel hervorlugten. Ich zappelte und jammerte, während diese Kröte Marta mein Mieder schnürte und die maurische Sklavin mein Haar mit Olivenöl glättete, mir mit einem heißen Brenneisen schimmernde Locken formte und Saphire und Mondsteine hineinflocht. Ich nahm mir noch nicht einmal die Zeit, meine Meerjungfrauenerscheinung im Spiegel zu bewundern, denn ich konnte meine Freiheit förmlich riechen; ich brannte darauf, von hier zu verschwinden, und meinte es keinen Tag länger in dem Palast aushalten zu können. Während all dieser kalten Wintermonate war ich in einen dumpfen Winterschlaf
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