Das Geheimnis Des Frühlings
genug, dass er hier war. Ich rief mir jedes Wort unseres kurzen Gesprächs hundertmal ins Gedächtnis zurück, konnte ihnen aber keinen Sinn entnehmen. Ich wusste nicht, inwiefern es sich bei der Holzrolle, die ich am Leib trug, um eine Karte handeln sollte, wann oder wie wir uns wieder treffen sollten oder wie die Stadt, die er erwähnt hatte, in den Plan der Sieben passte. Aber ich zermarterte mir nicht den Kopf
darüber, sondern nahm mein Schicksal einfach hin. Ich war noch nie in Mailand gewesen, würde aber jetzt alles daransetzen, dorthin zu gelangen, auch wenn ich noch nicht wusste, wie ich dies bewerkstelligen sollte. Meine beste Möglichkeit bestand im Moment darin, mich bedeckt zu halten und genau das zu tun, was dieses goldhaarige Aas von mir erwartete, bis seine Wachsamkeit nachließ.
Und das geschah schneller, als ich zu hoffen gewagt hatte. Sobald der Karneval vorüber war, verkündete meine Mutter, ich solle mich auf eine längere Reise vorbereiten. Jetzt, bei Anbruch der Schneeschmelze, würden wir nach Pisa fahren, um meinen Verlobten zu treffen und die Heiratsverträge zu unterzeichnen, damit die Hochzeit im Sommer stattfinden konnte. Mich interessierte all das herzlich wenig, aber als meine Mutter über unsere Reiseroute sprach, spitzte ich die Ohren - sie würde uns erst in die Berge zu einem Ort namens Bozen führen, wo mein Vater Geschäfte abzuwickeln hatte, und dann die Dolomitenkette hinunter bis in die Lombardei, wo wir in Mailand Rast machen würden, ehe wir über Genua nach Pisa weiterreisten. Und es kam noch besser: Obwohl wir in politischer Mission des Dogen unterwegs waren, würde uns mein Vater nicht begleiten. Das waren gute Neuigkeiten für mich; meine Mutter war zwar die offizielle Abgesandte des Dogen, würde aber trotzdem nur ein Minimum an Leibwächtern mitnehmen. Die Leibwache meines Vaters - gut ausgebildete, skrupellose Männer, denen nichts entging - würde bei dem Dogen in Venedig zurückbleiben.
Endlich nahte der Tag der Abreise. Unsere Sachen waren gepackt, wir waren bereit, der Karneval vorüber. Ich verabschiedete mich kühl von meinem Vater, und dann befand ich mich mit meiner Mutter ganze sechs Monate nach meiner Ankunft wieder auf dem Canal Grande.
Wasser, Licht.
Ich war wieder ein Säugling, der in Vero Madres Schoß gewiegt wurde. Ich war ein Kind, das in ihren Armen gewiegt
wurde. Ich war eine Frau, die in einem schaukelnden Boot gewiegt wurde. Wasser unter mir. Licht über mir. Licht unter mir. Wasser über mir. Ich lehnte, gegen Kissen gestützt, in einer goldenen Barke. Der Bug war so scharf und gebogen wie eine Henkersaxt. Ein Diener stakte uns mit einem langen Stab vorwärts, was mir verriet, dass das so unergründlich tief erscheinende Wasser in Wahrheit nur ein seichter Graben war. Viele Dinge hier waren nicht so, wie sie zu sein schienen.
Aber das alles kümmerte mich nicht mehr; die sich überlagernden Täuschungen und Illusionen meiner Geburtsstadt ließen mich kalt. Unsere Habseligkeiten folgten uns in Flachbooten Richtung Marghera und des Festlandes, zum Fuß der Berge, hinter denen - endlich - Mailand und ein lang ersehntes Wiedersehen auf mich warteten. Leb wohl, kalte, kalte Silberstadt. Lebt wohl, Glasmeer, Glashäuser, Glaskanäle.
Sollte ich Venedig nie wiedersehen, würde ich ihm keine Träne nachweinen.
Teil 7
BOZEN
Februar 1482
1
Das Winterkönigreich Bozen bescherte mir drei Entdeckungen.
Scoperta uno : Zephyr, der blaugrüne Baumkobold aus der Primavera, repräsentierte Bozen.
Scoperta due: Ich erfuhr den Namen meiner Mutter.
Scoperta tre: Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber ich fror hier tatsächlich noch mehr als in Venedig.
Ich scherze natürlich.
Obwohl ich das vermutlich nicht tun sollte. Ich werde euch ein bisschen mehr über meinen Aufenthalt in den Bergen erzählen, aber ich tue es widerwillig, und ich verrate euch auch, warum. Vom Moment meiner Ankunft bis zu dem meiner Abreise wurde ich von Ungeduld verzehrt. Ich wollte nur eines, und zwar nach Mailand, und das so schnell wie möglich. Ich wollte nur mit Bruder Guido zusammen sein, jede andere Gesellschaft zerrte an meinen Nerven. Wären meine Mutter und ich nicht länger in Bozen geblieben, als man braucht, um die Samenstängel eines Löwenzahns fortzupusten, wäre es noch zu lange gewesen.
Gut, ich will mich nicht aufhalten. Nur erwartet nicht von mir, dass ich auf diesen Teil meiner Geschichte genauso ausführlich eingehe wie auf die anderen Städte,
Weitere Kostenlose Bücher