Das Geheimnis Des Frühlings
ich von dem Geräusch zu Boden fallenden Metalls geweckt. Marta saß nicht länger neben mir, aber meine Mutter beobachtete mich noch immer wie eine Löwin ihre Beute. Doch draußen, außerhalb der Kutsche, hatte sich die Welt erneut verändert - ich erblickte riesige gläserne Seen, die zu Füßen von smaragdgrünen Bergen schlummerten - ruhig, friedlich und eine Freude für das Auge.
»Das Wasser ist vergiftet«, bemerkte meine Mutter, die meinem
Blick gefolgt war. Es war das Einzige, was sie während der Reise zu mir sagte. Der Wetterhahn hatte erneut seine Richtung geändert. Aus irgendeinem unausgesprochenen Grund befanden wir uns wieder im Kriegszustand.
Am nächsten Tag passierten wir die massiven Stadttore von Mailand; einer von einem Rosenkranz von Mauern und Toren eingeschlossenen Stadt. Ich befand mich einmal mehr in einem Malstrom aus Ungeduld und Erregung, und von dem Moment an, wo die Wächter uns durchgewinkt und ihre Spieße hinter uns hatten sinken lassen, hielt ich in jeder Ecke nach Bruder Guido Ausschau, lauschte in dem Gewirr aus Hufschlägen und den Rufen der Händler auf seine Stimme, forschte im Gesicht jedes Edelmannes und Bürgers, an dem wirvorbeikamen, nach seinen Zügen. Ich nahm die langen, breiten, von aus silbrigem Stein erbauten Gebäuden gesäumten Straßen und die eleganten römischen Säulen und Kolonnaden, die bewiesen, dass hier Alt und Neu nebeneinander existierten, nicht bewusst wahr. Selbst der prachtvolle Duomo mit seinem Wald aus silbernen, mit goldenen Kappen versehenen Türmen ließ mich kalt. Es war nicht der Ort, sondern ein Mann, dem mein ganzes Interesse galt.
Die ganze Zeit lang sehnte ich mich verzweifelt danach, dass er mich entführte; mich aus der Kutsche zerrte und mit sich davontrug, obwohl ich wusste, dass derlei Dinge seinem mönchischem Wesen widersprachen. Ich zwang mich, still sitzen zu bleiben und mich in Geduld zu fassen, aber mein Herz wurde schwer, als wir uns einer mächtigen blutroten Festung näherten, deren Brustwehrzinnen tausend Schlüsseln glichen, die mich einsperren und Bruder Guido von mir fernhalten würden. Unsere Kutsche rollte durch das Tor eines riesigen Uhrenturms, über dem ein Wappen mit einer eingemeißelten Schlange prangte, die uns, zum Angriff bereit, giftig musterte.
Die Burg jedoch gefiel mir; eine Festung mit einem von einem Graben umgebenen Palast innerhalb ihrer Mauern. Die
runden Türme ragten hoch in den orangefarbenen Himmel, über den rötliche Wolken wie Banner hinwegzogen. Hatte sich Bruder Guido irgendwie Zugang zu diesem Gelände, zu dieser riesigen Kaserne verschafft - denn ein weitläufiges Rasenquadrat war zu einem Exerzierplatz umgewandelt worden, auf dem Reihen und Reihen von Soldaten gedrillt wurden. Hunderte und Aberhunderte von schlanken, muskulösen jungen Männern, die alle das Haar kurz geschoren trugen, Krummschwerter schwangen und in ockerfarbene Umhänge gekleidet waren - ein Farbton, der mir bekannt vorkam, den ich jedoch im Moment nicht einordnen konnte. Die Männer reagierten wie eine fest zusammengeschweißte Einheit auf die Befehle ihres Kommandanten, eines Mannes in einer glänzenden Rüstung, der auf einem riesigen schwarzen Schlachtross saß. Meine Mutter und ich entstiegen mitten in dem Manöver unserer Kutsche, doch die Soldaten waren so gut ausgebildet, dass sie uns keines Blickes würdigten. Der Capitano jedoch lenkte seinen Hengst, der jetzt nervös tänzelte, sich aufbäumte und fast die Sonne verdeckte, zu uns herüber.
»Dogaressa!«, brüllte er, als würde er noch immer seinen Soldaten Anweisungen erteilen. »Welche Freude, Euch zu sehen! Und das ist Eure Tochter?« Er sprang von seinem Pferd, woraufhin sich ein Soldat aus den Reihen löste und hastig nach den Zügeln des Hengstes griff. Der Capitano warf seinen Helm auf die Grasnarbe, wo er klirrend liegen blieb. Ein Vorhang glatten schwarzen Haares fiel über seine Ohren, so geschnitten, als habe man ihm einen Topf über den Kopf gestülpt und dann alle darunter hervorlugenden Strähnen mit einer Schere abgesäbelt. Der Mann streifte seine Kettenhandschuhe ab und hielt uns beiden eine schweißfeuchte Pratze hin. Dann stieß er drei Worte hervor: »Ludovico Maria Sforza.« Sie reichten aus, um meine Mutter auf die Knie sinken zu lassen. Diese kurze Begegnung verriet mir drei Dinge.
Cosa uno : Er war der Herr dieser Stadt.
Cosa due : Meine Mutter hegte vor diesem freundlichen,
umgänglichen Soldaten eine wesentlich größere
Weitere Kostenlose Bücher