Das Geheimnis Des Frühlings
sogar bei Tageslicht so dunkel waren, dass wir kaum etwas sehen konnten, denn die hohen Häuser neigten sich über unseren Köpfen einander so stark zu, dass sie sich fast berührten. Ab und an flammte ein greller Sonnenstrahl in der Düsternis auf und wies uns den Weg, und dann sah ich auch, dass viele der großen Häuser und Palazzi aus poliertem, schwarz und weiß gestreiftem Marmor bestanden. Überall stank es nach Pisse und den fischigen Ausdünstungen der Huren an den Ecken. Kein erfrischender Windzug wehte durch die schmalen Gassen, stattdessen kauerten hohläugige Seemänner im Schatten und sogen an ihren Opiumpfeifen, von denen blaue Rauchwolken aufstiegen, die dem allgemeinen Gestank eine süßliche Note verliehen.
Nach einiger Zeit erreichten wir den Rand einer glitzernden Bucht. Die Spiere zahlreicher Maste ragten von der Uferlinie
auf wie Pfeile aus einem Köcher. Ich suchte den blauen Horizont nach der dunklen, bedrohlichen Gewitterwolke von tausend Schiffen ab, die auf das nichts ahnende Frankreich zuwogte, sah aber nur das glatte, spiegelblanke Meer. An einem so herrlichen Tag erschien es mir unvorstellbar, dass schon morgen ein blutiger Angriff erfolgen sollte. Genua zeigte uns das unschuldige Gesicht einer hektischen, geschäftigen Hafenstadt, deren Bewohner ihrem üblichen Tagewerk nachgingen. Ein gewaltiger Turm überragte das Hafengelände wie ein steinerner Finger. Möwen kreisten um seine Spitze und schossen auf der Suche nach Futter in die Tiefe. Wir gelangten in ein Gewirr dicht zusammengedrängter Häuser und Geschäfte. Fischer priesen ihren Fang in dem seltsamen Dialekt an, den ich von Signore Cristoforo her kannte; ihre Frauen und Kinder knüpften so schnell, dass ihre Finger zu fliegen schienen, große Netze. Alle starrten Bruder Guido und mich auf dem riesigen schwarzen Schlachtross mit offenen Mündern an. Wir zogen entschieden zu große Aufmerksamkeit auf uns.
»Wie ist der Name deines Freundes?« Ich meinte, einen Unterton in Bruder Guidos Stimme zu hören, der darauf schließen ließ, dass ihm die Vorstellung, ich könne einen anderen Verbündeten außer ihm gefunden haben, nicht sonderlich geflel.
»Cristoforo.«
»Sein Familienname«, fauchte er gereizt.
»Den kenne ich nicht, er hat ihn mir nie gesagt. Dann fiel mir etwas ein. »Sein Bruder heißt Bartolomeo«, fügte ich hinzu.
»Großartig.« Seufzend stieg er ab und schritt eine Weile wie ein Leibwächter vor mir her, bis er auf einen Mann stieß, der auf einem Fass saß und einen Haken mit Ködern bestückte. Bruder Guido nickte ihm zu. » Giorno «, grüßte er mit dem grässlichsten mailändischen Akzent, den ich je gehört hatte. »Cristoforo und Bartolomeo?«
Der Fischer spie ihm einen silbrigen Schleimbatzen vor die Füße, woraufhin mein Freund hastig einen Schritt zurücktrat.
Doch der Mann zeigte keinerlei Feindseligkeit, und als sein Speichel davonzukrabbeln begann, begriff ich, dass er einen Köderwurm im Mund warm gehalten und ihn erst hatte ausspucken müssen, ehe er etwas erwidern konnte. Ich hatte solche Mühe, einen Brechreiz zu unterdrücken, dass ich seine Antwort nicht mitbekam, aber sein Nicken sagte mir, dass er die beiden Brüder kannte. Wir gingen in die Richtung, die er angegeben hatte, und kamen zu einer kleinen Hütte, deren Dach aus Fasshälften bestand, sodass das ganze Gebilde einem Boot ähnelte. Aus der halb offenen Tür wehte der Geruch heraus, den ich zu lieben gelernt hatte und der Bruder Guidos Lebenselexier war - Pergament und Tinte. Auch ohne die Kartenrolle über der Tür wusste ich, dass wir hier richtig waren.
Ein Schreiber saß im Inneren der Hütte und kritzelte sorgsam Linien auf ein auf einem geneigten Tisch befestigtes Pergament. Er drehte sich nicht um, als wir eintraten, was mir die Zeit gab, Bruder Guido einen Rippenstoß zu versetzen und auf Reihen hölzerner, mit Einkerbungen versehener Rollen an einer Wand zu deuten, die genauso aussahen wie unsere.
Der Mann hielt den Blick noch immer unverwandt auf seine Arbeit gerichtet. »Kann ich Euch helfen?«
Ich hatte wider besseres Wissen gehofft, ein Wunder würde geschehen und Signore Cristoforo wäre noch hier, aber die Stimme gehörte nicht ihm - dieser Mann musste demnach sein Bruder sein.
»Könnt Ihr eine Karte für uns lesen, Signore?«
»Wir lesen keine Karten«, ertönte die knappe Antwort. »Wir fertigen sie an.«
Ich mischte mich ein. »Aber Signore, wir haben eine lange Reise hinter uns, und wir können für
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