Das Geheimnis Des Kalligraphen
Intriganten behaupteten öffentlich, Ibn Muqla habe sich gegen den Kalifen verschworen. Gegen diese Lüge der Palasthistoriker spricht, dass er nicht – wie in solchen Fällen üblich – hingerichtet wurde, sondern später sogar vom Leibarzt des Kalifen behandelt wurde und mit dem Herrscher tafelte.
Ibn Muqla beweinte die Verstümmelung sein Leben lang: ›Man hat mir die Hand abgehackt wie einem Dieb, die Hand, mit der ich den Koran zweimal kopiert habe.‹
Er war nun fünfzig Jahre alt und wollte nicht aufgeben. Geschickt band er das Schreibrohr an seinen Armstummel. Auf diese Weise konnte er wieder kalligraphieren, wenn auch nicht mehr so schön wie früher. Er gründete die erste große Schule für Kalligraphie, um sein Wissen weiterzugeben und um die Begabtesten in einem Kreis von Eingeweihten um sich zu scharen, die seine Reformen verstehen, verinnerlichen und weitergeben sollten, für den Fall, dass ihm etwas zustieße. Die Enttäuschung darüber, dass sich seine Gelehrten öffentlich von ihm distanziert hatten, als er bestraft worden war, verbitterte ihn. Er wollte nun das geheime Wissen um die Schrift in die Herzen junger Kalligraphen pflanzen, um es über seinen Tod hinaus zu retten.
Doch er ahnte nicht, dass er damit seinen Feinden erneut in die Falle ging. Sie stellten auch seine Pläne für die Schule als eine Verschwörung gegen den Kalifen dar.
Der Kalif war erzürnt, weil Ibn Muqla nicht auf ihn hörte, und befahl seinem Richter, ihn in einem Haus fern der Stadt gefangen zu halten und dafür zu sorgen, dass er seine Geheimnisse niemandem mehr diktieren konnte. Dort sollte der Kalligraph bis zu seinem Lebensende auf Kosten des Palastes leben, aber außer seinem Wächter niemanden mehr sprechen.
Einer seiner Erzfeinde ließ ihm die Zunge abschneiden und ihn inein Gefängnis am Rand der Wüste werfen, wo er isoliert und in großem Elend lebte. Proteste der Dichter und Gelehrten seiner Zeit halfen nicht.
Ibn Muqla starb im Juli 940. An seinem Grab hielten die großen Dichter seiner Epoche wie Ibn Rumi und al Sauli bewegende Reden. Wäre er tatsächlich in eine Verschwörung gegen den Kalifen oder den Koran verwickelt gewesen, wie seine Feinde behaupteten, hätte kein Dichter gewagt, ihn zu loben, geschweige denn Trauer zu zeigen, denn die Dichter und Gelehrten jener Zeit arbeiteten alle am Hof des Kalifen und lebten von dessen Gnade.
›Was ich schaffe, überdauert die Zeit‹, heißt das berühmteste, von Ibn Muqla überlieferte Zitat und es zeugt bis heute von der Weitsicht eines Mannes, der wusste, dass die Regeln, die er für die arabische Kalligraphie schuf, gelten werden, solange es diese Schrift gibt«, schloss Nura, schob die Blätter zusammen und legte sie auf den Tisch.
Stille herrschte in dem kleinen Zimmer. Salman wollte so viel sagen, fand aber keine Worte.
»Er war niemals ein Verschwörer«, sagte Nura leise. Salman nickte, und in diesem Augenblick hörten beide das Gartentor knarren.
»Da kommt jemand«, rief Nura und zog eilig ihren Mantel an. »Geh nachschauen und kümmere dich nicht um mich. Sollte es Karam sein, bin ich weg«, sagte sie, blass im Gesicht, und zeigte mit dem Kopf in Richtung Fenster, und noch bevor Salman die Tür seines Zimmers erreichte, hatte sie es geöffnet. Da das Zimmer ebenerdig lag, brauchte sie nur über die Fensterkante zu steigen.
»Na, mein kleiner Kalligraph«, sagte Karam am Hauseingang, »ich dachte, ich schaue mal vorbei. Im Café ist heute Flaute«, sagte er, legte die Tüte mit Brot auf den Küchentisch und warf einen Blick auf Salman. »Du bist aber blass. Hast du was zu verbergen vor deinem Freund Karam?« Ohne zu fragen, öffnete er die Tür zu Salmans Zimmer und blieb an der Schwelle stehen. Salman erwartete einen Schrei. Sein Herz klopfte hämmernd gegen seine Brust.
Enttäuscht kehrte Karam in die Küche zurück. »Ich dachte, du hast vielleicht Besuch. Ich habe nichts dagegen, aber du darfst es mir nicht verheimlichen. Warum bist du nur so blass?«
»Du hast mich erschreckt. Ich dachte, du bist ein Einbrecher.«
Salman kehrte in sein Zimmer zurück, schloss das Fenster, das Nura angelehnt gelassen hatte, setzte sich an den Tisch und schob den Stapel Blätter mit Ibn Muqlas Geschichte in die Schublade. Karam telefonierte wahrscheinlich mit Badri, doch dieser schien nicht gewillt, zu ihm zu kommen.
Er durchsuchte das Zimmer nach Spuren, die Nura verraten könnten, und war ihr zutiefst dankbar, dass sie die Küche so perfekt und
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