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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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ein Glas in Olivenöl eingelegte Miniartischocken aus Italien mit. Beim Obsthändler auf der Geraden Straße, an der Ecke zu seiner Gasse, kaufte er zum ersten Mal in seinem Leben eine teure Ananas.
    »Macht nichts«, sagte er dem Gemüsehändler, »heute ist ein besonderer Tag.«
    Er pfiff seine Lieblingsmelodie und öffnete die Tür.
    Den Augenblick bedrohlicher Stille konnte er nie mehr vergessen. Merkwürdigerweise ahnte er sofort, dass Nura weder bei den Nachbarn noch bei ihren Eltern war. Etwas Furchtbares musste passiert sein. Er ging in die Küche, legte die Papiertüten auf den Küchentisch und rief: »Nura!« Sein Herz pochte.
    Keine Antwort, kein Zettel, nichts. Er ging in den Hof und setzte sich am Brunnen kraftlos auf einen Stuhl. In diesem Moment erkannte er die Katastrophe.
    »Es gibt Sekunden, in denen man weiß, was man alles falsch gemachthat. Ich war dem Sterben nahe, als ich in einem einzigen Augenblick alles Falsche in meinem Leben erkannt habe. Ich bin zur falschen Zeit in eine falsche Gesellschaft geboren«, wiederholte er später. Seine Zuhörer hatten Mitleid mit ihm, aber verstehen konnte ihn niemand.
    Viele seiner Entscheidungen erschienen ihm jetzt als Fehler. Er wollte doch nur eines: die Schrift ehren. Diese göttliche Erfindung, die mit ein paar Buchstaben Ozeane, Wüsten und Berge entstehen ließ, das Herz bewegte und den Geist anregte. Und gab sie nicht allem, was sie mit Tinte auf Papier festhielt, ein langes Leben? Nur Götter konnten das. Er hätte begreifen sollen! Die Schrift war eine Göttin, und nur der würde in ihr Paradies eingelassen, der auf alles verzichtete. Welchen Platz hatten da Ehefrau und Kinder? Und war er nicht schon von Anfang an in die falsche Familie geboren worden? Wer sonst als ein Verrückter ohrfeigte seinen Sohn für eine göttliche Gabe? War sein Vater krank? Und seine Mutter, die ihn nie geliebt oder verteidigt hatte, war sie nicht genauso krank?
    Was für eine Idiotie war es, ein Eheleben führen zu wollen. Klar brauchte er eine Frau. Er war nicht süchtig wie der Gockel Nassri. Nein. Irgendwie befriedigte ihn ein Liebesspiel nicht halb so viel wie die Arbeit an einer Kalligraphie.
     
    Eine halbe Stunde saß er damals in seinem verlassenen Haus und wünschte sich, ein Nachbar würde ihm mitteilen, Nura sei verunglückt oder in Ohnmacht gefallen und man habe sie ins Krankenhaus gebracht.
    Aber es klopfte nicht, stundenlang nicht, obwohl er überall Licht machte und das Radio aufdrehte, um den Nachbarn seine Anwesenheit mitzuteilen.
    Die Vermutung eines Unfalls erschien ihm Stunden später absurd, und das schmerzte ihn, weil er seine Hilflosigkeit erkannte. Er war sich auch sicher, dass seine Schwiegereltern von einem Unfall nichts wussten, sonst hätten sie bei ihm angerufen.
    Wie lange hatte er geschlafen? Er wusste es nicht mehr. Von diesem Tag an endete seine Disziplin, die ihn jeden Tag um sechs Uhr aufwachenund spätestens um zweiundzwanzig Uhr ins Bett gehen ließ. Tag und Nacht gingen ineinander über.
    Ein aufdringliches Klopfen weckte ihn. Er schaute erschrocken um sich und schüttelte seine Hand, weil er einen Alptraum gehabt hatte, in dem ihn eine große Wespe genau zwischen den Zeige- und den Mittelfinger stach. Er lag angezogen auf dem Bett. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er ungewaschen und in seinen Straßenkleidern auf dem Bett lag.
    Es war noch früh, aber draußen dämmerte es bereits.
    Nuras Vater stand in der Tür, fahl im Gesicht und mit rot verweinten Augen. Er war hässlicher denn je.
    »Assalam aleikum«, grüßte er trocken. Scheich Rami Arabi war nie ein Heuchler gewesen, das wusste Hamid. Er kam direkt zur Sache. Er warf wortlos die Briefe auf den kleinen Tisch im Innenhof und blieb stehen. Hamid erkannte natürlich seine Schrift. Wie um alles in der Welt war Nuras Vater in den Besitz dieser Briefe gekommen? Und mit einem Schlag wurde ihm alles klar. Hamid verstand, was der Gelehrte wortlos sagte. Seine Knie sackten unter ihm weg, er fiel auf den nächstbesten Stuhl. Wie sollte er sich dem Vater seiner Frau erklären? Er hoffte, dass das Ganze nur ein Alptraum wäre.
    »Bitte setz dich. Es ist ein großes Missverständnis, und ich kann es Nura erklären«, sagte er mit brüchiger Stimme. Er war für einen Augenblick insgeheim erleichtert, dass Nura Zuflucht bei ihren Eltern gesucht hatte und den Vater vorschickte. Er hielt jedoch die Fassade des schockierten Ehemannes aufrecht: »Sie hätte es mit mir besprechen

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