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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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religiösen Frauenvereinigung nach Hause kam. Sie bat ihren Mann, den Abschiedsbrief vorzulesen, und begriff durch die Offenheit der Worte, dass Nura bereits geflüchtet war. Sie stieß einen Schrei aus und klagte so laut über ihr bitteres Schicksal, dass drei Frauen vom Nachbarhaus kamen, weil sie dachten, der Ehemann ihrer Nachbarin Sahar hätte sein Leben ausgehaucht.
     
    Salman war an jenem Tag in das Haus des Kaffeehausbesitzers Karam zurückgekehrt, hatte seine Hefte und Utensilien an sich genommen und Karam eine kreisrunde Kalligraphie hinterlassen. Dieser staunte am Abend nach der Arbeit über den Schlüssel, der im Schloss der Haustür steckte. Er dachte, Salman sei wiedergekommen und freute sich auf ihn.
    Als Karam ihn, Mitte März, im Gnadenhof besuchen wollte, ihn aber nicht fand, sagte eine Nachbarin, Salman lerne bei einem Meisterkoch die Kunst der feinen Damaszener Küche. Das Restaurant »Al Andalus« sei nobel und sehr teuer und liege in der Nähe von Bab Tuma.
    Salman schien sich über Karams Besuch zu freuen. Nachdem er das Kochen entdeckt habe, sagte er, sei ihm der Umgang mit dem Löffel lieber als der mit der Rohrfeder. Er habe zurzeit viel zu tun, weil zwei Hochzeiten anstünden, sobald er aber etwas Luft hätte, würde er Karam besuchen und vielleicht noch ein wenig Kalligraphie üben. Sein neuer Chef, Carlos, ein Viertel Spanier, ein Viertel Jude, ein Viertel Araber und höchstens ein Viertel Christ, liebe die Kalligraphie und halte sie neben Kochen, Reiten und Fechten für die Kunst, die einer beherrschen müsse, bevor er sich Mann nennen darf.
    Es war für Karam eine bewegende Begegnung. Zum ersten Mal entdeckte er, dass Salman auch gut sprechen konnte. Als er ihm das scherzhaft sagte, lachte Salman, ja, er könne recht haben. All die Jahre habe er so etwas wie einen Knoten in der Zunge gefühlt und nun hätten Liebe und Gewürze ihn befreit.
    »Er ist kein Junge mehr, er ist ein Mann«, sagte sich Karam damals auf dem Weg zurück zu seinem Café. Er fühlte eine tiefe Zuneigungfern jeden Mitleids oder jeglicher Gewissensbisse für diesen mutigen jungen Mann, eine Zuneigung, die nun wie eine Lilie in seinem Herzen aufging, die weit mehr war als die Liebe zu Badri und dessen göttlichem Körper. Zum ersten Mal erschien ihm Salman so unwiderstehlich attraktiv. Er wollte es ihm bei der nächsten Begegnung sagen. Immer wieder hoffte er auf einen Anruf, auf einen spontanen Besuch im Café, doch der März ging zu Ende, ohne den Wunsch des verliebten Karam zu berücksichtigen. Badri war gekränkt, weil Karam nur noch von Salman schwärmte, und er irrte sich nicht in seinen Mutmaßungen, weil das Herz der Betrogenen einen unsichtbaren Kompass besitzt.
    Karam öffnete also an diesem Apriltag die Haustür und rief nach Salman, aber die Stille verschluckte seine Stimme. Langsamen Schrittes ging er zur Kammer, wo Salman immer arbeitete. Die Tür war auf. Die Tischschublade gähnte ihm offen und ausgeräumt im leeren Raum entgegen. Nur eine handgroße Kalligraphie lag auf dem Tisch, die Karam nicht entziffern konnte.
    Zwei Tage später zeigte er sie Samad, Hamids Gesellen, der eine Kleinigkeit im Café zu Mittag aß. »Kannst du dieses Durcheinander entziffern?«, fragte er ihn und legte dem Fachmann das kartonierte Blatt hin.
    »Das ist kein Durcheinander. Es ist Kufischrift mit Spiegelung. Es ist sauber geschrieben, die Maße, Winkel und Dehnungen stimmen, aber es fehlt der Schrift an Eleganz. Wer hat sie geschrieben?«
    »Ein Freund«, erwiderte Karam stolz.
    »Das kann nicht sein«, sagte Samad.
    »Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?«
    »Weil das kein Freund geschrieben haben kann. Da steht: Karams Herz ist ein Friedhof.«
    Die Farbe schwand aus dem Gesicht des Wirts. Auch seine dunklen Augen schienen hellgrau geworden zu sein. Er schleppte sich in sein Büro hinter der Theke. Seine Mitarbeiter schworen, als er herauskam, seine Haare seien nicht mehr blauschwarz, sondern aschgrau gewesen.
     
    Salman verschwand leise, wie es schon immer seine Art war. Er verabschiedete sich von niemandem. Er schrieb lediglich einen langen Brief an Sarah und bat sie um eine Notlüge, um seine und Nuras Spuren zu verwischen.
    Sein Fahrrad verkaufte er für gutes Geld an einen Gemüsehändler im fernen Amara-Viertel.
    Im Gnadenhof bemerkte außer Sarahs Mutter kaum jemand Salmans Verschwinden. Erst als sein Vater zwei Monate später schwer an der Leber erkrankte, stellten einige Nachbarn fest, dass sie Salman

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