Das Geheimnis Des Kalligraphen
süchtig und maßlos. Er war ein echter Damaszener, der seine Stadt für das Paradies hielt. Jedes Mal wenn er die Stadt verlassen musste, empfand er eine Art Folter und war sich sicher, dass der Weg in Dunkelheit und Kälte enden würde – und in einem Leben voller Mühsal und Beschwernis, wozu Nassri nicht fähig war.
Es war sein Mitarbeiter Taufiq, der ihm riet, die Demütigung des Kalligraphen ernst zu nehmen. Er glaube ihm, sagte Taufiq, dass er die Frau nicht angefasst habe, aber sein Glaube zähle nicht. In der Stadt behaupte jeder, als ob er dabei gewesen wäre, dass der Kalligraph gegen Geld Liebesbriefe für ihn, einen berühmten Frauenhelden, geschrieben habe. Nicht genug damit, dass Hamid Farsi die Frau weggelaufen sei, auch sein großer Traum von der Kalligraphieschule sei endgültig zunichte gemacht worden. Der gehörnte Mann sei also blind und unberechenbar vor Wut. »Und es interessiert mich nicht, ob du dein Ding in die Frau oder in ein Wespennest gesteckt hast, aber mich interessiert brennend, dass dieser Wahnsinnige nicht irgendetwas in dich hineinsteckt«, sagte Taufiq.
Was für einen Ton sein Buchhalter anschlug! Zum ersten Mal fühlte Nassri, dass er Taufiq bislang unterschätzt hatte. Das war kein Rechen- und Zinsentrottel, der blind durchs Leben ging, sondern ein erfahrener und nervenstarker Mann. Seit Nassri sich vor Hamid verstecken musste, bemerkte er eine Veränderung im Tonfall seines Mitarbeiters. Er wurde nicht unhöflicher, sondern ungeduldiger, und seine Stimme nicht lauter, aber herrischer. Sie erinnerte entfernt an die Stimme des Vaters.
»Es geht um Leben und Tod«, hatte Taufiq gesagt, um zu unterstreichen, dass er auf der Befolgung seiner Befehle bestand, die er – höflich wie alle Damaszener – Vorschläge nannte. Und Nassri hatte, entgegen seiner Neigung, zu gehorchen.
Die ersten sechs Wochen seines Lebens im Verborgenen waren äußerst schwer. Er musste alles neu lernen. Aufzuwachen, wenn die anderen schlafen, lange Stunden und Tage in geschlossenen Zimmern zu verbringen, weil niemand wissen sollte, dass er im Nebenraum sitzt, Stunden – wenn nicht Tage – zu schweigen, das erlebte Nassri zum ersten Mal. Die Einsamkeit füllte die Zeit mit Stacheln und machte sie zu einem Folterinstrument. Er hatte sein Leben lang die Zeitungen nur überflogen, nun las er auch die Werbung und die Todesanzeigen, und es war immer noch Zeit übrig.
Er dachte über Dinge nach, die ihm nie durch den Kopf gegangen waren, und kam zu Einsichten, von denen er vorher nichts geahnt hatte.
Von Stunde zu Stunde nahmen seine Qualen zu, seine Augen schmerzten bei allem, was er sah, seine Ohren schmerzten bei allem, was er hörte, sein Herz drohte, stillzustehen und gleich darauf zu explodieren, und er hatte dröhnende Kopfschmerzen, als wäre sein Hirn zu eng geworden für all seine Gedanken. Plötzlich wuchsen Worte in seinem Innern, wie einem Embryo Füße und Hände wachsen. Und seine Zunge warf sie gegen die Wand, gegen das Fenster oder, wenn er lag, gegen die Decke. Sein Herz beruhigte sich und seine Kopfschmerzen verschwanden. So muss es am Anfang der Menschheit gewesen sein, dachte er, die Einsamkeit der Menschen ließ die Sprache in ihnen wachsen, damit ihr Herz nicht explodierte und ihr Hirn nicht vor Traurigkeit einging.
Jede Begegnung auf der Straße konnte ihn das Leben kosten. Jede auch noch so kleine Nachlässigkeit war ihm nicht mehr gegönnt. Er musste immer schneller sein als die Petzer und geschickter als dieser gottverfluchte intelligente Kalligraph.
Die wenigen Menschen, mit denen er noch verkehrte, verhielten sich ihm gegenüber anders als vorher. Ein Freund aus der Kindheitweigerte sich, ihn zu treffen, und ein hoher Offizier, der auf allen Vieren vor ihm gekrochen war, als Präsident Schischakli noch an der Macht war, wollte nun nicht einmal ans Telefon kommen. Ein junger Offizier im Vorzimmer wimmelte Nassri mit der Bemerkung ab, sein Kommandant kenne keinen Nassri Abbani.
Er lag stundenlang wach und dachte nach. Er war nicht einmal verbittert über diese Freunde, die nicht ihn, sondern seine Aura gesucht hatten, mit der sie die Dunkelheit ihres Daseins etwas erhellen wollten.
Versteckt und verfolgt fiel ihm immer wieder sein Großonkel ein, der auch vor seinen Häschern flüchten musste. Ahmad Abu Chalil Abbani, der Bruder seines Großvaters. Er war als Kind bereits vom Theater begeistert und hatte diese niedrige Kunst, die man damals in den Kaffeehäusern und
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