Das Geheimnis Des Kalligraphen
bei dem berühmten Kalligraphen al Scharif aus reiner Faulheit abgebrochen und sich selbständig gemacht. Er ahnte noch nichts von den großen Schwierigkeiten, in Damaskus auf eigene Faust und ohne das Zertifikat seines Meisters an Aufträge zu kommen. Er mietete aus purer Angeberei einen Laden im damaligen Kalligraphenviertel al Bahssa, musste ihn aber wieder aufgeben, zumal ein Hochwasser die Gegend überflutet hatte. Von da an arbeitete er zu Hause. Das Zimmer, das er großspurig Atelier nannte, hatte ein Fenster zum Hof und eines zum Kinderzimmer und so konnte Hamid seinen Vater stundenlang bei der Arbeit beobachten, ohne dass dieser es merkte.
Seine Mutter war wie abwesend. Sie war wie besessen von Fihmi. Sie sprach nur von ihrem toten Liebling, zu dem sie, in teuren Sitzungen bei Scharlatanen, Kontakt aufnehmen wollte. Das Haus verkam. Und da Hamids Vater ein charakterschwacher Mann war, ließ er sich nicht scheiden, sondern klammerte sich immer heftiger an seine in denWahnsinn gleitende Frau. Von den wenigen kleinen Aufträgen, die er noch erhielt, konnte er die Familie gerade über Wasser halten.
Etwa ein Jahr nach Fihmis Tod war die Mutter dem Wahn vollkommen verfallen, sein Vater folgte ihr etwas später nach. Hamid musste schweigen, denn wenn er nur den geringsten Zweifel anmeldete, erhielt er Schläge und dabei geriet die Mutter außer sich. Sie schlug um sich und schrie und einmal traf sie sein rechtes Ohr, das daraufhin stark blutete und für Wochen taub blieb. Auch Jahre später hörte er auf diesem Ohr nur schlecht.
Wenn er jetzt darüber nachdachte, warum er bei der Beerdigung seiner Eltern nicht geweint hatte, so lag es nicht an der Lächerlichkeit der wenigen schwarzen Überreste, die man ihm nach dem Busunfall seiner Eltern ausgehändigt hatte, und auch nicht an den geheuchelten Worten über seinen Vater, die der Scheich gegen gutes Geld von sich gegeben hatte. Nein, der wahre Grund fiel ihm hier im Gefängnis ein. Sie hatten ihn so oft weinen lassen, dass er am Ende keine Träne mehr für sie übrig hatte.
4.
I n der Ferne donnerte es. Hamids Schläfen pochten, wie immer wenn ein Unwetter aufzog. Blitz und Donner rückten näher, und als sie genau über Damaskus angekommen waren, ließen seine Kopfschmerzen nach. Der Strom fiel aus, die ganze Stadt lag im Dunkeln, und er hörte in seiner Zelle die Flüche der Damaszener aus den nahe gelegenen Gassen, Läden und Cafés, die die Zitadelle umgaben.
Er zündete eine Kerze an, um die Gesichter auf dem Foto noch einmal genau anzuschauen. Er fragte sich, ob das, was er über seine Familie wusste, seiner Fantasie oder seiner Erinnerung entsprang. Er war sich nicht sicher.
Bald kehrte das Licht zurück. Aber nur in das Bürogebäude und die drei privilegierten Zellen. Die unteren Stockwerke blieben in tiefe Finsternisgetaucht, aus der Schreie zu ihm nach oben drangen wie die Rufe der Gequälten aus der Hölle. Eine Stimme ließ ihm das Blut in den Adern erstarren, ein Mann schrie um Gnade, seine Stimme klang hoffnungslos und erschrocken wie die eines jungen Kalbs, kurz bevor es geschlachtet wird. Seine Rufe wurden immer wieder vom Lachen der anderen Gefangenen übertönt. Der Mann flehte die Wärter um Schutz an, aber er rief vergeblich.
Aufgewühlt ging Hamid zu dem Foto an der Wand zurück und betrachtete es noch einmal. Die Haltung seines Großvaters Hamid Farsi verriet Stolz, Lebenslust, Melancholie und Schmerz. Er schien stolz zu sein auf seine adlige Herkunft und auch auf seine Leistung. Hamid erinnerte sich, dass sein Großvater, der nicht religiös war, oft von einem alten Sufimeister namens al Halladsch erzählte, der Mensch und Gott gleichstellte und sie sich als eine unzertrennliche Einheit dachte. Dafür wurde der Sufigelehrte im Jahre 922 in Bagdad gekreuzigt.
Und er, Hamid? Was hatte er für eine Schuld auf sich geladen? Hatte seine Katastrophe nicht ihren Anfang genommen, als er beschlossen hatte, die Schrift zu reformieren? Schrift und Sprache zu reformieren heißt auch, den Menschen zu bessern. Warum begegnete man ihm mit so viel Ablehnung, mit so viel Starrsinn, als wäre er ein Hasser des Islam? Ihm, der immer gläubig und rein gelebt hatte, so gläubig, dass ihm der Großvater einst geraten hatte, er solle nicht so streng mit sich umgehen? Paradies und Hölle habe der Mensch erfunden und auf Erden eingerichtet.
Hamid sah um sich, war das nicht die Hölle, dass man ihn einsperrte, während sich seine verräterische
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