Das Geheimnis Des Kalligraphen
reichlich beschenkt. Dein Amt verpflichtet dich, so jung du auch bist, die zwölf Meister, wie wenn sie deine eigenen Kinder wären, zu lieben und zu beschützen. Du musst immer die Balance zwischen der Sicherheit der Stille und der Notwendigkeit der Unruhe halten. Du sollst dich nicht einmischen, wenn Halbwissende Unwissende aufklären und den einen oder anderen als Mitglied ihres Kreises gewinnen. Denn sie wissen nichts, was dem Bund schaden könnte, und können leicht wieder ausgeschlossen werden, wenn sie gegen unsere Grundsätze verstoßen. Du bist aber derjenige, der urteilen muss, ob man einen Halbwissenden zu einem Eingeweihten erhebt oder nicht. Noch sorgfältiger wählst du einen Nachfolger im ›Rat der Weisen‹ für ein Mitglied, das der Tod entführt hat. Lass dich bei deiner Entscheidung nicht vom Ruhm eines Meisters blenden. Du bist das Haupt des Bundes. Du nimmst den Eingeweihten und Meistern am Ende den Schwur der Treue ab und gefährdest damit dich selbst.
Du kannst mich noch fünf Jahre fragen, ich kenne alle Meister und jeden Eingeweihten persönlich. Danach wirst du sie selbst kennen. Ich bin müde. Ich merke es schon seit längerem, aber meine Eitelkeitstand mir im Wege, ich wollte es nicht wahrhaben, aber wenn ich dich sehe, weiß ich, was Feuer und Leidenschaft bedeuten. Deshalb übergebe ich dir gerne das Banner. Von jetzt an bin ich nur noch ein alter, zahnloser Löwe.«
Serani war nicht einmal fünfzig, aber er sah abgekämpft aus.
In jener Nacht saßen sie noch lange zusammen. »Ab morgen früh«, sagte der Meister lächelnd beim Abschied, »beginnst du mit der Suche nach einem Meisterschüler. Man kann nie früh genug damit anfangen. Ich brauchte zwanzig Jahre, bis ich dich gefunden habe. Und weißt du, was das Entscheidende war? Deine Fragen, deine Zweifel. Diese Fragen, die du mir gestellt hast, kann man nicht lernen. Die Buchstaben waren und sind allen Schülern zugänglich, und nur du hast die Fragen nach ihrem wahren Gehalt gestellt. Du hattest keine Antwort, aber Antworten sind niemals wichtiger als die Fragen«, sagte er mit eindringlicher Stimme. »Suche nicht den sympathischsten und liebenswürdigsten, sondern den absoluten Meister unter deinen Schülern. Er kann auch der widerlichste Mensch sein, du musst ihn ja nicht heiraten, sondern ihm die Bestätigung seiner Aufnahme in unseren Bund verleihen.«
»Meister, wie soll ich wissen, welcher Mann sich am besten als Nachfolger eignet, wenn mehrere nicht nur genug Feuer im Herzen haben, sondern auch gleich gut kalligraphieren?«, hatte Hamid damals gefragt.
»Es ist derjenige, bei dem du anfängst Neid zu fühlen und den du insgeheim für den besseren von euch beiden hältst«, sagte Serani und lächelte gütig.
»Das heißt, ich bin ... nein«, Hamid wagte nicht den Satz zu Ende zu denken.
»Doch, doch, du bist besser als ich«, sagte Serani. »Von der Sympathie her ist mir Geselle Mahmud hundertmal, Hassan auch zehnmal lieber als du, aber du kennst sie ja, Hassan scheitert am Diwani- und Mahmud am Tulut-Stil, weil beide die Geometrie nicht ausstehen können. Es ist so, wie wenn ein Mathematiker Algebra nicht mag«, fügte er hinzu. »Und du? Du schreibst Buchstaben, die auf den Millimeter genau einem unsichtbaren Kreisdurchmesser folgen. Ich habebeiden einmal ein Lineal gegeben und sie darum gebeten, mir einen einzigen Buchstaben in einem von dir geschriebenen Gedicht in Diwani-Schrift zu zeigen, der eine Abweichung von mehr als einem Millimeter aufweist. Sie wussten so gut wie ich, dass du kein Lineal benutzt und keine Kreise mit Bleistift vorzeichnest, in die man die Buchstaben hineinbauen kann. Sie kamen nach einer Stunde mit blassen Gesichtern und gesenktem Blick zu mir zurück.«
Die hinter dem Bild versteckte Liste der Kalligraphen enthielt die Namen arabischer, persischer und ab dem 16. Jahrhundert vor allem osmanischer Meister, die die arabische Kalligraphie zu höchster Blüte gebracht hatten. Hamid war erst der dritte syrische Meister seit dem Zusammenbruch des osmanischen Reichs.
Er hatte ein Jahrzehnt nach einem Nachfolger gesucht, doch unter all seinen Kollegen und Gesellen nur durchschnittliche Kalligraphen gefunden.
Erst einen Monat vor der Flucht seiner Frau machte ihn ein alter Meister auf Ali Barake aufmerksam, einen außergewöhnlichen Kalligraphen aus Aleppo. Dessen Hand war mutig und seine Schrift voller virtuoser Musik. Hamid ließ sich Fotos von seinen Kalligraphien besorgen und war nach
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