Das Geheimnis Des Kalligraphen
Überhaupt war sie sonderbar verkrampft. Wenn sie die Wäsche aufhängte, achtete sie stets darauf, dass ihre Unterwäsche auf der mittleren Leine Platz fand. Nur so war sie vor den Blicken der Neugierigen von beiden Seiten der Terrasse geschützt. Sie fühlte eine eigenartige Scham, als wäre die Unterwäsche nicht aus Baumwolle, sondern aus ihrer Haut hergestellt.
Auch die Nachbarin Badia durfte keinen Schleier tragen. Ihr Mann wollte sogar, dass sie auch die Gäste empfing. Er war ein reicher Textilhändler im Suk al Hamidije und bekam oft Besuch – sogar von Europäern und Chinesen. Badia bediente sie zurückhaltend, weil sie der Überzeugung war, dass Ungläubige unrein wären.
Aber im Gegensatz zu Badia, die ihren Mann nicht sonderlich respektierte, fürchtete sich Sahar vor ihrem Mann Rami, wie sie alle Männer fürchtete, seitdem ihr Vater ihr einmal eine Tracht Prügel verpasst hatte, weil sie ihn als kleines Mädchen vor seinen Gästen arglos »Gockel mit vielen Hühnern« genannt und blamiert hatte. Er wartetedamals geduldig, bis die Gäste das Haus verließen, ließ sich dann von der Dienerschaft einen Stock aushändigen und Sahar an beiden Händen festhalten. Dann prügelte er auf sie ein, und es halfen weder die Tränen ihrer Mutter noch das Flehen der Dienerschaft. »Der Mann ist die Krone meines Kopfes«, musste sie deutlich wiederholen. Ihre Stimme erstickte viele Male an ihren Tränen, aber der Vater schien an diesem Tag schwerhörig geworden zu sein.
Auch ihr Mann konnte innerhalb von Sekunden aufbrausen. Er schlug sie nie, aber er peitschte mit seiner Zunge auf sie ein, die schärfer als ein Messer aus Damaszener Stahl in ihr Herz schnitt. Und immer wenn seine Lippen bebten und seine Gesichtsfarbe wechselte, fürchtete sie sich.
Sie wollte unbedingt einen Sohn haben. Doch nach Nura starben alle Kinder kurz vor oder nach der Geburt.
Nura erinnerte sich noch Jahre später, wie ihre Mutter sie mitnahm zum Friedhof nahe Bab al Saghir. Hier auf diesem alten Friedhof gab es neben den einfachen Gräbern auch Kuppelbauten mit Gräbern besonders angesehener Männer und Frauen der ersten Stunde des Islam. Sie waren Verwandte und Weggefährten des Propheten. Die Mutter suchte immer das Grab von Um Habiba, einer der Frauen, und das Grab von Sakina, einer Urenkelin des Propheten, auf. Dort standen immer viele in Schwarz gehüllte, schiitische Frauen, vor allem Pilgerinnen aus dem Iran, sie strichen mit Bändern und Tüchern alle Schreine entlang, als könnten sie allein durch die Berührung eine Reliquie mit nach Hause nehmen. Und obwohl die Mutter der sunnitischen Mehrheit angehörte und die Schiiten mehr hasste als Juden und Christen, betete sie dort und wünschte sich einen Sohn. Sie streifte mit der Hand über den Schrein und massierte anschließend ihren Bauch. Ein Tuch wagte sie nicht mitzubringen, weil ihr Mann diesen ganzen Aberglauben verlachte, und sie hatte Angst davor, dass die erzürnten Toten sie mit einer Missgeburt bestrafen würden.
Überhaupt verbrachte die Mutter in Nuras Erinnerung mehr Zeit auf den Friedhöfen als unter Lebenden. Sie marschierte mit Hunderten von Gläubigen zu den Gräbern der berühmten Islamgelehrten und Weggefährten des Propheten, stieg mit ihnen auf den DamaszenerBerg Qassiun und legte Blumen und grüne Myrtenzweige auf die Gräber. Nura mochte diese anstrengende Prozession überhaupt nicht, die am frühen Morgen begann und bis zum Mittagsruf des Muezzins dauerte. Sie fand an bestimmten Tagen der heiligen Monate Ragab, Schaban und Ramadan statt. Gleichgültig, ob es draußen eiskalt oder erstickend heiß war. Nura musste immer mit, der Vater drückte sich davor. Er hielt all diese Rituale für Aberglaube und verachtete sie.
Und jedes Mal endete die Prozession vor dem Tor einer Moschee am Fuße des Berges Qassiun. Dort standen Hunderte, wenn nicht Tausende, und riefen ihre Wünsche und Bitten in den Himmel. Alles lief im Eiltempo ab, der Besuch, das Niederlegen der Blumen und grünen Myrtenzweige und die Gebete. Denn Propheten wie Engel hörten die Bitten nur bis Mittag, sagte die Mutter. Und tatsächlich, wenn der Muezzin zum Mittagsgebet rief, verstummten alle schlagartig. Auch war es jahrelang Sitte, dass Gläubige die vielen bronzenen Klopfer und Metallringe, die das Tor der besagten Moschee schmückten, betätigten und höllischen Lärm veranstalteten, bis der Scheich sie verärgert abmontieren ließ und in die enttäuschte Versammlung rief: »Wenn Gott
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