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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Küssen. Das waren dieselben Frauen, die manchmal mit Kopftuch und gesenktem Blick über die Straße huschten oder schlurften, als hätten sie noch nie Lust empfunden.
    Nuras Eltern küssten sich nie. Eine unsichtbare Mauer trennte sie. Nicht ein einziges Mal sah Nura, wie sich ihre Eltern umarmten. Einmal, die Zimmertür stand einen Spalt offen, konnte Nura ihre Eltern vom Sofa aus im Hof sehen. Sie saßen am Brunnen und tranken Kaffee. Sie konnten Nura nicht sehen, weil ihr Zimmer im Dunkel lag. Beide waren bester Laune und lachten viel über irgendeinen Verwandten, der sich bei einer Hochzeit dumm angestellt hatte. Plötzlich streckte der Vater seine Hand aus, um die nackten Schultern der Mutter zu streicheln. Es war ein sehr heißer Tag und die Mutter trug nur ein dünnes Nachthemd. Als er sie berührte, schnellte die Mutter hoch. »Lass das, du musst in die Moschee«, sagte sie und setzte sich auf einen anderen Stuhl.
    Das einzige, das sich neben der Kälte der Eltern wie ein Faden durch Nuras Kindheit zog, waren Bücher.
    »Bücher, überall stinkende Bücher«, beschwerte sich die Mutter oft. Die Bücher stanken nicht, aber sie waren in der Tat überall. Sie füllten die Regale beider Zimmer im Erdgeschoss und die der Mansarde, und dort oben lagen sie dazu noch aufgestapelt oder aufgeschlagen auf dem Boden. Ein Stuhl am Schreibtisch und ein Sofa waren die einzigen freien Flächen. Dort saß Nura später stundenlang und las.
    Im Schlafzimmer der Eltern und in der Küche durften keine Bücher stehen. Das war der Wunsch ihrer Mutter, dem sich ihr Vater jammernd fügte, denn letzten Endes gehörte das Haus – auch nach der Hochzeit – ihr. »Dein Vater hatte ja außer seinen dreißig Läusen und dreitausend nach Schimmel stinkenden Bücher nichts«, sagte die Mutter lachend zu Nura. Sie hatte nicht übertrieben. Rami Arabi war ein gelehrter Sufi, der sich aus den Gütern der Erde nicht viel machte und die Genüsse der Schrift allen anderen Genüssen vorzog.
    Im Gegensatz zu seiner ersten Frau konnte Sahar, Nuras Mutter, nicht lesen. Sie war siebzehn Jahre jünger als ihr Mann und gerade siebzehn geworden, als er sie geheiratet hatte. Aus der ersten Ehe hatte Rami Arabi drei Söhne. Sie waren fast so alt wie seine zweite Frau und hatten selber Familien. Sie betraten das Haus ihres Vaters selten, denn Nuras Mutter mochte sie nicht und sprach nicht gerne von ihnen und der verstorbenen ersten Frau. Sie verachtete die Söhne, weil sie nicht nur wie ihr Vater arm geblieben, sondern zudem noch einfältig waren. Das wusste auch Nuras Vater und es schmerzte ihn, dass er keinen klugen Sohn hatte. Er liebte Nura und sagte ihr, sie besitze die Klugheit, die er sich bei einem Sohn gewünscht hätte. »Wenn du ein Mann wärst, würdest du die Menschen in der Moschee betören.«
    Ihm selbst fehlten die Stimme und das Aussehen, die bei Arabern eine große Rolle spielen. Obwohl seine Söhne ihn enttäuschten, sprach er stets gut von seiner ersten Frau, und das ärgerte Nuras Mutter besonders. Manchmal zischte sie: »Die Friedhöfe duften nach Weihrauch, aber hier stinkt es nach Verwesung.«
    Auf der anderen Seite diente Nuras Mutter ihrem Mann ehrfürchtig und treu. Sie kochte für ihn, wusch und bügelte seine Gewänderund tröstete ihn bei seinen vielen Niederlagen. Geliebt hat sie ihn keine Sekunde.
    Das Haus gehörte der Mutter, aber das letzte Wort gehörte ihm. Sie wollte am liebsten Schleier tragen, um klare Verhältnisse zwischen dem Fremden und dem Eigenen zu schaffen, aber er verabscheute den Schleier genau wie ihr Vater. »Gott hat dich mit einem schönen Gesicht begnadet, weil er die Menschen damit erfreuen wollte«, sagte der eine vor der Ehe und der andere danach.
    Als eine entfernte Tante, fasziniert von Nuras schönem Gesicht, andeutete, dass es vielleicht besser sei, ihr einen Schleier zu verpassen, damit sie die Männer nicht verführe, lachte Nuras Vater sie aus: »Wenn es so gerecht zugehen soll, wie Gott und sein Prophet sagen, dann sollten auch die Männer einen Schleier tragen, denn viele Männer verführen mit ihrer Schönheit die Frauen oder irre ich mich?«
    Die Tante sprang wie von einer Schlange gebissen auf und verließ das Haus, weil sie die Worte verstanden hatte. Sie hatte ein Verhältnis mit einem Schönling in ihrer Nachbarschaft. Alle wussten das, nur nicht ihr Ehemann. Nuras Mutter war damals zwei Tage schlecht gelaunt, weil sie die Anspielungen ihres Mannes wenig gastfreundlich fand.

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