Das Geheimnis Des Kalligraphen
zu besorgen, beschloss sie, ihn dort zu treffen. Sie wollte neben dem Eissalon Bakdasch auf ihn warten.
Schon am Morgen kündigte sie ihr Unwohlsein an. Die Mutter empfahl ihr, wie immer, der Schule fernzubleiben, denn sie selbst hasste die Schule, wagte aber nicht, laut darüber zu sprechen, da Nuras Vater wollte, dass sie den mittleren Schulabschluss machte.
Auch der Vater fand, sie sehe blass aus. Sollte es ihr schlechter gehen, könne sie mit der Straßenbahn nach Hause fahren. Nura ging also zur Schule. Eine Stunde später überzeugte sie die Schulleiterin mit blassem Gesicht und zittriger Stimme von ihrer Übelkeit. Aber zehnSchritte entfernt von der Schule gewann ihr Gesicht an Farbe und ihr Gang an Kraft. Die Schule war nicht weit vom Suk al Hamidije entfernt. Sie sparte lieber die zehn Piaster und lief zu Fuß.
Um zehn Uhr kam Tamim. Er trug einen großen leeren Korb für die Einkäufe. Hier auf dem Markt sah er noch schöner aus als bei seinem Meister.
»Wenn uns jemand fragt, dann sind wir Geschwister, deshalb sollten wir Hand in Hand gehen«, schlug sie ihm vor, was sie sich die ganze Nacht ausgedacht hatte. Er gab ihr seine Hand, und sie hatte das Gefühl, vor Glück zu sterben. Schweigsam gingen sie durch den belebten Suk.
»Sag doch was«, bat sie ihn.
»Ich mag deine Hand«, sagte er, »sie ist warm und trocken wie die meiner Mutter, aber viel kleiner.«
»Ich habe zehn Piaster«, sagte sie, »und die brauche ich nicht mehr für die Straßenbahn. Ich gehe zu Fuß nach Hause. Welches Eis magst du am liebsten?«
»Zitrone«, sagte er.
»Und ich Damaszener Beere«, erwiderte sie und lachte, »die macht die Zunge ganz blau.«
»Und ich kriege bei Zitroneneis Gänsehaut.« Er leckte schwärmerisch seine Lippen.
Sie kauften Eis am Stiel und schlenderten über den Markt. Der Frühling füllte die Straßen mit Blütenduft. Nura verspürte das Verlangen, ihr Lieblingslied zu pfeifen, wie Jungen es taten, aber als Mädchen durfte sie es nicht.
Sie schlenderten nun jeder für sich, weil Tamim mit der einen Hand seinen Korb und in der anderen das Eis hielt. Und Nura musste lachen, weil Tamim so geräuschvoll an seinem Eis schleckte. Doch bald war der Suk so voll, dass sie sich vor ihm durch die Menge schlängeln musste. Ein blinder Bettler faszinierte sie mit seinem Gesang. Sie fragte sich, warum Blinde diese besondere Stimme hatten. In diesem Augenblick spürte sie Tamims Hand. Sie hatte nicht einmal die Hälfte ihres Eises geschleckt, und er war schon fertig! Sie drehte sich zu ihm um und er lächelte. »Keine Angst, dein Bruder«, sagte er leise.
Als sie sich vor dem Eingang des Marktes wieder trennen mussten, hielt Tamim ihre beiden Hände noch lange in seinen. Er schaute ihr in die Augen, und Nura fühlte zum ersten Mal in ihrem Leben Atemnot aus Freude. Er zog sie an sich. »Geschwister verabschieden sich mit einem Kuss«, sagte er und küsste sie auf die Wange. »Und sobald ich Kapitän werde, komme ich mit meinem Schiff und hole dich ab«, sagte er und verschwand eilig in der Menge, als würde er sich der Tränen schämen, die ihm über die Wangen liefen.
Einen Monat später kniete ein anderer Junge auf dem kleinen Gebetsteppich und betete.
»Und wo ist der... «, fragte sie den Meister und biss sich auf die Zunge, um nicht den Namen auszusprechen, den sie all die Nächte in ihr Kissen geflüstert hatte.
»Ach, der!«, sagte der Meister belustigt. »Er ist ausgerissen und ließ seinen Eltern vor ein paar Tagen ausrichten, er habe auf einem griechischen Frachter angeheuert. Ein verrückter Junge.«
In der Nacht musste ihr Vater den Arzt holen. Sie fieberte eine Woche lang.
Zwei Jahre nach Nuras Flucht klopfte ein kräftiger Mann in Marineuniform an ihre Haustür. Er sei Kapitän zur See, sagte er ihrem Vater. Ihre Mutter lag damals wegen einer Blinddarmoperation im Krankenhaus.
Als er von Nuras Flucht hörte, soll er gelächelt und dem Vater freundlich die Hand gedrückt haben. »Nura hat immer das große Meer gesucht«, soll er gesagt haben. Diese Worte hatten den Vater so beeindruckt, dass er – zum Verdruss seiner Frau – oft von jener Begegnung erzählte, sogar auf dem Sterbebett.
Das geschah aber erst Jahrzehnte später.
6.
N iemand fragte Salman, wo er gewesen war, wenn er sich mehrere Tage nicht in der Schule blicken ließ. Und von den hundert Kindern und fünf Lehrern lächelte ihn nur einer freundlich an: Benjamin, sein Banknachbar.
Als er am Nachmittag
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