Das Geheimnis Des Kalligraphen
und seine Propheten eure Rufe und Gebete nicht hören, dann hören sie auch euer krachendes Klopfen nicht.«
Die Mutter liebte die Prozession und war wie hypnotisiert, wenn sie daran teilnahm. Sie wusste daher auch genauer als der Vater, wann welche Gräber besucht wurden und zu welcher Tageszeit.
Manchmal seufzte er verzweifelt: »Bin ich der Scheich oder bist du es?«
Nuras Vater hatte seiner Frau verboten, zu den Scharlatanen zu gehen. Sie sollte lieber einen vernünftigen Arzt aufsuchen. Er wollte auch nichts von den Bittgängen seiner Frau zu den lebenden und toten Heiligen wissen. Deshalb verriet Nura nie einen Besuch ihrer Mutter bei den heiligen Gräbern oder Männern. Sie hatte Mitleid mit ihr. Es ging so weit, dass auch Nura anfing Gott anzuflehen, damit die Mutter einen Sohn bekäme.
Acht Mal wuchs der Bauch der Mutter, wölbte sich gewaltig über ihren Beinen, und danach, wenn die Mutter wieder dünn wurde, warkein Kind da. Bald lernte Nura das Wort Fehlgeburt. Aber alle Qualen konnten den Traum der Mutter nicht schwächen. Die achte Fehlgeburt war besonders schwer, und nur durch Glück gelang es den Ärzten, das Leben der Mutter zu retten, allerdings um den Preis, dass sie nie wieder schwanger wurde. Ihr Mann warf ihr vor, sie hätte sich durch das teuflische Zeug, das ihr die Scharlatane verschrieben hätten, unfruchtbar gemacht.
An diese achte und letzte Fehlgeburt erinnerte sich Nura besonders gut. Ihre Mutter kam um Jahre gealtert aus dem Krankenhaus. Zu der Zeit entdeckte die Mutter beim gemeinsamen Bad im Hammam die ersten Ansätze von Brustwölbungen ihrer elf-, zwölfjährigen Tochter. »Du bist ja eine Frau geworden«, rief sie verwundert aus. Ein Hauch von Vorwurf lag auf ihrer Zunge.
Von diesem Augenblick an behandelte die Mutter sie nicht mehr wie das Mädchen, das sie war, sondern wie eine erwachsene Frau, die von sabbernden, gierigen Männern umgeben ist.
Als Nura dem Vater von den übertriebenen Ängsten ihrer Mutter erzählte, lachte er nur, aber später musste er erfahren, dass er den Vorahnungen der Tochter mehr Respekt hätte zollen sollen. Jeder junge Mann wurde von der Mutter misstrauisch beargwöhnt, als hätte sie Angst, er fiele sofort über Nura her.
»Unten im Keller habe ich schon ein Seil vorbereitet. Wenn dir was zustößt, werde ich mich erhängen«, sagte sie eines Morgens. Nura durchsuchte den Keller, fand aber außer einer dünnen Wäscheleine nichts, trotzdem hatte sie Angst um die Mutter und begann ihr alles zu verheimlichen, was sie erlebte.
Ihr Vater hatte offene Ohren für alle Fragen der Welt und wurde nicht nur in der Moschee, sondern auch zu Hause aufgesucht und um Rat gefragt. Er war berühmt für seine Geduld und Offenheit, und er regte sich selten auf, auch wenn man ihn fragte, warum Gott die Mücken erschaffen hatte und der Mensch schlafen musste. Er antwortete geduldig und freundlich. Doch er mochte nichts, aber wirklich gar nichts beantworten, was Frauen betraf. Nicht selten unterbrach er den Hilfesuchenden schroff: »Das sind Weiberangelegenheiten, frage lieber die Hebamme oder deine Mutter.« Er hatte große Angst vor Frauen.Nicht selten wiederholte er, dass schon der Prophet vor der List der Frauen gewarnt habe. Noch öfter erzählte er aber von dem Mann, dem eine Fee einen Wunsch erfüllen wollte. Der Mann wünschte sich eine Brücke von Damaskus bis Honolulu. Die Fee verdrehte die Augen und jammerte, das sei sehr schwer für sie, ob er keinen leichteren Wunsch hätte. Ja, sagte er, er wolle seine Frau verstehen. Da fragte die Fee, ob er die Brücke nach Honolulu ein- oder zweispurig wünsche.
Wie sollte Nura ihm oder ihrer Mutter von dem jungen Schmied erzählen, der ihr immer wieder auf der Hauptstraße auflauerte und sie leise fragte, ob er ihr den Riss zwischen den Beinen nicht nähen solle. Er habe die geeignete Nadel. Zu Hause betrachtete sie sich im Spiegel. Ja, diese besagte Stelle hat Ähnlichkeit mit einem Riss. Aber nähen?
Sicher sah sie nackte Jungen im Hammam. Denn am Frauentag durften die Frauen ihre kleinen Söhne mitbringen, bis sich bei ihnen die erste Regung zeigte, dann mussten sie mit ihren Vätern ins Bad gehen. Aber all die Jahre glaubte sie, was eine Nachbarin im Hammam erzählt hatte, dass nämlich die Jungen von Geburt an etwas beschränkt seien und nicht gut pinkeln könnten, deshalb habe Gott ihnen diesen kleinen Schlauch geschenkt, damit sie sich nicht dauernd nass machen.
Überhaupt lernte sie eine Menge im
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