Das Geheimnis Des Kalligraphen
Hammam. Das Hammam war nicht nur ein Ort für Körperpflege und Sauberkeit, sondern auch ein Ort für Ruhe und Lachen. Dort hörte sie immer Geschichten und lernte von älteren Frauen, was in keinem Buch stand. Die Frauen schienen ihre Scham und Scheu mit den Kleidern abgelegt zu haben und erzählten offenherzig über alles. Der feuchtwarme Raum duftete nach Lavendel, Ambra und Moschus.
Hier genoss Nura exotische Getränke und Gerichte, die sie draußen nie kostete. Jede Frau bemühte sich, ihre Kochkünste zu steigern, und brachte das schmackhafte Resultat mit. Dann saßen alle Frauen im Kreis und probierten von den mehr als zwanzig Gerichten und tranken zuckersüßen Tee dazu. Jedes Mal kehrte Nura mit reichem Herzen zurück.
Als sie ihrer Schulkameradin Samia von dem lästigen Schmied erzählte, sagte diese: »Das ist ein Betrüger. Männer tragen keine Nadel,sondern einen Meißel, und sie machen das Loch nur größer.« Und Samia riet ihr, dem Aufdringlichen zu empfehlen, die Risse seiner Schwestern zu nähen, und wenn er noch Garn übrig hätte, dann solle er es einmal bei seiner Mutter versuchen.
Auch hätte Nura gerne ihren Vater oder ihre Mutter gefragt, warum sie tausend Gründe erfand, um den blassen Jungen mit den großen Augen zu sehen, der im Herbst 1947 beim Polsterer seine Lehre anfing, als sie gerade die fünfte Klasse besuchte.
Das Geschäft des Polsterers lag ganz in der Nähe. Der Junge sah sie am ersten Tag vorbeischlendern und lächelte schüchtern. Als sie am nächsten Tag vorbeiging, um den Jungen wiederzusehen, kniete er in der Ecke auf einem kleinen Teppich und betete. Auch am nächsten Tag betete er und am übernächsten Tag ebenso. Nura wunderte sich, fragte Mutter und Vater, aber sie wussten auch nicht, warum. »Es ist vielleicht ein Zufall«, sagte der Vater, »dass der Junge gerade betet, wenn du vorbeigehst.«
»Oder er hat etwas verbrochen«, ergänzte die Mutter, bevor sie sich Suppe in den Teller gab.
Als sie beim nächsten Mal den Jungen wieder beim Beten antraf, fragte sie seinen Meister, einen alten Mann mit kurzem, schneeweißem Bart, ob der Junge etwas Böses getan habe.
»Nein, um Gottes willen. Er ist ein braver Junge«, sagte der Meister und lächelte gütig, »aber er muss, bevor er den Umgang mit Baumwolle, Wolle, Textilien und Leder lernt, den Umgang mit den Menschen lernen. Wir leisten unsere Arbeit in den Innenhöfen. Nicht selten ist nur die Hausfrau oder die alte Großmutter da. Manchmal lassen uns sogar die Leute ganz allein in ihrem Haus, um die Betten, Matratzen und Sofas zu reparieren, während sie einkaufen, arbeiten oder Nachbarn besuchen gehen. Wenn dann der Polsterer nicht hundertprozentig zuverlässig ist, schadet er dem Ruf der Gilde. Deshalb ist es vorgeschrieben, ihn zu einem frommen Gesellen auszubilden, bevor er das erste Haus betritt.«
Der Junge verdrehte bei dieser Rede die Augen, und Nura lächelte über diese kurze, aber eindeutige Mitteilung.
Wenn der Junge gegen Mittag Wasser vom öffentlichen Brunnen inden Laden schleppte, wollte sie ihn abpasssen. Viele Läden hatten keine Wasseranschlüsse. Der Junge musste mehrere Gänge machen und eimerweise das Wasser herbeiholen.
Eines Tages wartete Nura am Brunnen. Der Junge lächelte sie an. »Wenn du willst, kann ich dir helfen«, sagte Nura und zeigte ihm ihre Blechkanne. Der Junge lachte: »Von mir aus gerne, aber das darf ich nicht annehmen, sonst muss ich eine halbe Stunde länger beten. Aber ich kann kurz bei dir hier bleiben, wenn du willst«, fügte er hinzu und stellte eine große Kanne unter den Wasserhahn.
An den Brunnen kamen nur wenige Leute und sie verweilten nicht lang.
Nura dachte oft an diesen Jungen, wenn sie Gedichte und Lieder hörte, die von schönen Engeln sprachen. Sie wusste nicht, warum so ein Wesen mit Riesenflügeln schön sein sollte, aber Tamim war so schön wie kein anderer Junge im ganzen Viertel, und wenn er sprach, begleiteten ihre Herzschläge jedes seiner Worte.
Tamim hatte nur zwei Jahre bei einem Scheich lesen und schreiben gelernt, dann musste er arbeiten, weil seine Eltern arm waren. Eigentlich wollte er gerne Schiffskapitän werden und nicht Matratzen und Sessel, Sofas und Betten polstern. »Und noch dazu jede freie Minute beten. Meine Knie tun schon weh«, erzählte er ihr.
Als Tamim ihr einmal erzählte, er müsse am nächsten Tag zum Suk al Hamidije, um für seinen Meister eine größere Menge Nähgarn und bunte Fäden von einem Großhändler
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