Das Geheimnis Des Kalligraphen
nach Hause kam, war seine Mutter immer noch mit dem Putzen ihres Verstecks beschäftigt. Sie richtete mit großer Anstrengung die Räume her. Sie putzte und wusch, warf den Unrat erst in den Innenhof und schob ihn dann in die Räume der ehemaligen Weberei.
Sie bemühte sich bis zum frühen Nachmittag, alles für ihren Mann vorzubereiten, und flüchtete anschließend mit dem Jungen in ihr Versteck. Und sie erfuhr von Schimon, dass sie sich keine Sorge machen müsse, sie könne ein paar Jahre da wohnen, denn die Erben des alten Webers prozessierten gegeneinander. Das winzige Haus sollte wegen seiner Nähe zur historischen Buloskapelle viel Geld einbringen.
Nach kurzer Zeit schon hörte die Mutter auf zu weinen, und das Versteck roch nicht mehr modrig, sondern nach Zwiebeln und Thymian. Das Haus war nicht an den Strom angeschlossen, aber das Kerzenlicht vertrieb Dunkelheit und Kälte. Auch Toilette und Bad funktionierten, denn man hatte im Streit um die Erbschaft vergessen, das Wasser abzustellen.
Bald fingen Mutter und Sohn an, wie zwei Verschwörer über das dumme Gesicht des Vaters zu lachen, wenn er abends betrunken nach Hause kam und niemanden fand, auf den er einschlagen konnte.
Doch das Glück der Armen ist kurzlebig.
Eines Nachts stand Salmans Vater plötzlich im Raum. Sein Schatten tanzte wild über die Wände. Die zwei Kerzen schienen vor ihm zu zittern. Seine Stimme und sein Gestank, eine üble Mischung aus Arrak und Verwesung, füllten alle Lücken, die sein Körper noch übrig ließ. Salman traute sich kaum zu atmen.
Erst später erfuhr er von Sarah, dass die Nachbarin Samira, die Frau des Tankwarts Jusuf, die am anderen Hofende zwischen dem Hühnerstallund der Wohnung des Bäckergesellen Barakat wohnte, das Versteck für eine Lira verraten hatte. Samira entging nichts. Sie überwachte von ihrer Wohnung aus alles, was sich in den acht Wohnungen, zwei Toiletten, zwei Holzschuppen und dem Hühnerstall des Gnadenhofs bewegte. Salman konnte der Nachbarin diesen Verrat nie verzeihen. Er vermied ihren Namen und nannte sie nur noch »Petzerin«.
In jener Nacht zerrte Salmans Vater die Mutter an den Haaren die Treppe hinunter und hinaus in die Gasse, und wenn ihm Schimon und Kamil, die herbeigeeilt waren, nicht den Weg versperrt hätten, hätte er die arme Frau bis zum Hof geschleift. Sie befreiten Mariam aus seinem Griff, und während Schimon ihr auf die Beine half, schob Sarahs Vater, der Polizist, den Tobenden vor sich her in den Gnadenhof zurück. »Sei friedlich und zwinge mich nicht, meine Uniform anzuziehen, du weißt, wohin ich dich sonst führe«, brummte er, um den Tobenden zur Vernunft zu bringen.
Salman stand am Fenster und beobachtete sein weinendes Gesicht. Er hatte Angst, sein Vater würde noch einmal zurückkommen und auch ihn an den Haaren nach Hause schleifen. Doch als es still blieb, wollte er nur noch eines: zu seiner Mutter. In diesem Augenblick hörte er lautes Bellen aus dem Erdgeschoss, das in ein Winseln überging, als hätte ein Hund Angst oder Hunger.
Salman hob die Kerze über seinen Kopf und versuchte vom Fenster aus in den Innenhof zu spähen, doch das Licht der Kerze wurde von der tiefen Dunkelheit geschluckt, noch bevor es den Boden erreichte.
Neugierig und ängstlich zugleich ging er langsam die Treppe hinab, und noch bevor er die letzte Stufe erreichte, fiel ein schwarzes Knäuel gegen seine Füße. Ein Paar leuchtende Augen blickten ihn an.
Der Hund war groß, doch seine Verspieltheit und Tollpatschigkeit verrieten sein junges Alter. Er hatte einen schönen Kopf und ein großes Maul. Erst das verkrustete Blut auf dem Brustfell machte Salman auf eine Wunde am Hals des Tieres aufmerksam. Es sah aus, als hätte jemand den Hund schwer verletzt und ihn hier in dieser Ruine ausgesetzt.
»Warte«, rief Salman und ging die Treppe wieder hinauf. Er fandunter den Lappen, die seine Mutter in einer Schublade aufbewahrte, ein sauberes Stück aus einem alten Kleid. Damit umwickelte er vorsichtig den Hals des verletzten Hundes, der ihm gefolgt war und erstaunlich stillhielt.
»Du wirst nicht sterben«, sagte Salman und streichelte ihm den Kopf. »Genau wie meine Mama«, fügte er hinzu und umarmte den Hund. Der Hund jammerte vor Hunger. Salman erinnerte sich an die Hammelknochen, die ihnen Metzger Mahmud geschenkt und mit denen seine Mutter die letzte Suppe gekocht hatte. Sie hatte den Knochen aufgehoben, damit Salman die Fleischreste abknabbern konnte, wenn er wieder Hunger bekam.
Weitere Kostenlose Bücher