Das Geheimnis Des Kalligraphen
ihn ansah, erstarb die Lüge auf seiner Zunge. »Ich hasse die Schule. Es ist fürchterlich ... ich will nichts mehr lernen«, stammelte er zornig.
»Magst du, dass ich dir wie früher schöne Sachen vorlese?«, fragte Sarah, die die wirklichen Gründe für seinen Hass gegen die Schule kannte.
»Ich mag keine Bücher mehr. Erzähl mir lieber etwas«, sagte er. »Sei nicht dumm, Bücher sind wunderbar. Niemand kann so gut erzählen wie die Bücher, die ich gelesen habe«, sagte sie.
So kam es, dass sie ihm vorlas. Und mit jedem neuen Buch wurde die Lektüre aufregender und spannender. Eines Tages brachte Sarah ein Buch mit seltsamen Rechenaufgaben und kuriosen Zahlenrätseln mit. Von da an entdeckte Salman ein besonderes Vergnügen bei der Lösung komplizierter Rechnungen. Sarah staunte über die Geschwindigkeit, mit der er im Kopf rechnen konnte, und gab ihm an diesemNachmittag zur Belohnung drei Küsse auf die Stirn und einen auf die Lippen.
Besonders fasziniert war Salman von einem Buch über die Erde, und er übte geduldig den Verlauf der großen Flüsse der Welt und konnte bald viele Länder genau platzieren. Nur beim Vorlesen hatte er Schwierigkeiten. Er war hastig und übersah Buchstaben und nicht selten ganze Wörter. Sarah streichelte ihm den Kopf und flüsterte: »Langsam, langsam. Wir sind nicht auf der Flucht.«
Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er fehlerfrei und mit richtiger Betonung vorlesen konnte. Sarah war von ihrem Erfolg als Lehrerin begeistert und saß fast täglich bei ihm.
Ein aufmerksames Paar bildeten die beiden, ein Bild der Ruhe und Schönheit.
Natürlich machten sich die Nachbarn über sie lustig, und vor allem Samira sah sie in ihrer Fantasie schon als Brautpaar. Das wiederum brachte Sarahs Mutter auf, die Samira die Leviten las. »Und vergiss nicht, mein Mann ist bei der Polizei«, warnte Faise abschließend und marschierte vor allen Nachbarn, die an diesem Tag draußen saßen, erhobenen Hauptes zu ihrer Wohnung. Von da an war Ruhe.
Sarah aber entführte Salman weiterhin in ferne Länder und zu fremden Menschen. Sie unterrichtete ihn lange Jahre ohne Ferienpause und manchmal ohne Gnade. Ihren letzten Unterricht hielt sie kurz vor ihrer Hochzeit. An diesem Tag lachten sie viel. Als sie dann mit Salman die letzten Seiten von Guy de Maupassants Roman »Stark wie der Tod« besprochen hatte, sagte sie: »Ich habe all die Jahre darauf gewartet, dass ich dich langweile.« Salman schwieg. Er konnte seine Dankbarkeit nicht ausdrücken.
Sarah hatte alles vorbereitet. Sie überreichte Salman ein Zertifikat, das sie für ihn gezeichnet hatte. »Salman ist mein bester Schüler« stand darauf in arabischer und französischer Sprache. Datum, Unterschrift und drei Stempel in Rot, Grün und Blau machten das Dokument amtlich. Aber Salman erkannte die Stempel der Polizei, die Sarahs Vater besorgt hatte. »Das sieht nach Knast aus«, sagte er lachend.
Das aber geschah neun Jahre später. Kehren wir zum Sommer des Jahres 1948 zurück, als Salman gerade die Schule verließ.
Als es wärmer wurde, nahm Salman den Hund am Nachmittag oft noch einmal allein zu einem langen Spaziergang durch die Felder mit, weil Benjamin zu dieser Zeit oft in der Falafelbude arbeiten musste. Der Hund erfrischte sich gerne in dem kleinen Fluss und rannte hinter jedem Holzstöckchen her.
Flieger fraß alles, was Salman ihm vorsetzte, und verstand jedes Wort, das er ihm zuflüsterte. Auch ohne Kette blieb er im Hof sitzen, wenn sich sein Herrchen verabschiedete. Er jammerte leise und herzerweichend, aber rührte sich nicht vom Fleck, wenn Salman ihn darum bat.
Eines Tages im August schlug der Hund zwei große Bauernburschen in die Flucht, die Salman während des Spazierganges angriffen. Sie waren kräftig und wollten sich mit dem schmächtigen Städter Salman amüsieren. Den Hund sahen sie erst, als dieser besorgt um sein schreiendes Herrchen aus dem Wasser sprang. Salmans Wangen glühten vor Stolz. An diesem Tag brachte er seinem Beschützer eine große Schüssel voller Fleischreste. Er ließ ihn in Ruhe fressen und ging nach Hause.
»Heute schlafen wir ungestört in unserem Versteck«, sagte er.
»Aber das hat doch keinen Sinn. Er holt mich in der Nacht«, erwiderte die Mutter.
»Niemand holt dich, Flieger kann es mit zwei Männern wie Vater aufnehmen«, sagte Salman, und er gab nicht nach, bis seine Mutter ihn zum Versteck begleitete. Sie staunte, wie schön und mächtig der schwarze Hund inzwischen geworden war. Und
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