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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Salman brachte ihn dem Hund, der den Knochen vergnügt und ununterbrochen mit dem Schwanz wedelnd verschlang. Erst als Salman ihm lange den Kopf streichelte, wurde der Hund ruhiger. Wie zwei Ausgesetzte schauten sie sich an, und Salman sollte diesen Hundeblick nie mehr vergessen.
    Er schlich davon, vergaß aber nicht die Hoftür sorgfältig zu schließen, als fürchtete er, der Hund würde verschwinden.
    Der Morgen dämmerte bereits, als er in die Wohnung seiner Eltern schlich. Seine Mutter kauerte noch auf der Matratze, während sein Vater im zweiten Zimmer laut schnarchte.
    »Bald wird er dich nicht mehr erschrecken«, flüsterte er seiner Mutter ins Ohr, »ich habe einen großen Hund, und der wird bald wachsen und alle fressen, die dich anfassen, Mama«, sagte Salman, und seine Mutter lächelte, nahm ihn in den Arm und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Salman aber blieb wach und rührte sich nicht, bis sein Vater »Kaffee« rief und die Mutter weckte. Als sie in die Küche ging, nickte Salman ein. Er sah den Hund, er war groß und mächtig wie ein Rappe und hatte schneeweiße Flügel. Er, seine Mutter und Sarah schwebten auf seinem Rücken über das christliche Viertel. Die Mutter umklammerte ängstlich seinen Bauch und Salman hörte, wie Sarah sie beschwichtigte, dass der Hund eine verzauberte Schwalbe sei, die sich sehr gut auskenne und sie nie abwerfen würde.
    Sarah rief ihm laut über den Kopf seiner Mutter zu: »Salman, Salman, du musst dem Hund einen Namen geben, sonst geht er dir verloren.«
    »Und wie soll er heißen?«, schrie er gegen den Wind.
    »Flieger«, hörte er seine Mutter und Sarah im Chor rufen.
    Der Hund machte eine Schleife um die Kirche der heiligen Maria, Salman sah sie zum ersten Mal von oben, dann flog der Hund entlang der Abbaragasse und erreichte den Gnadenhof. Salman sah die Nachbarn aus ihren Behausungen kommen. Sie zeigten zu ihnen nach oben und riefen: »Flieger.«
    Er schrak auf. Sein Vater zündete sich gerade die zweite Zigarette an und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
    »Flieger heißt mein Hund«, murmelte Salman leise und sprang auf.
     
    7.
     
    Z u Ostern des Jahres 1948 empfing Salman die Erstkommunion. Die Sankt-Nikolaus-Schule erschien ihm jedoch im zweiten Jahr, nachdem er einmal die Freiheit des freien Tages genossen hatte, noch unerträglicher. Er mied sie. Nur im Winter, wenn es draußen eiskalt war, ging er in die Schule und überzeugte sich aufs Neue, dass er in diesem feuchten Gebäude, in dem jeder auf einen Schwächeren einprügelte, nichts verloren hatte.
    Als der Frühling lockte, trieb es Salman zusammen mit Benjamin auf die Felder vor der Stadtmauer. Dort roch er das Leben, die Luft schmeckte nach Aprikosenblüten und den jungen säuerlichen Mandeln, die sie, noch grün, direkt von den Bäumen aßen.
    Sie lachten viel und spielten mit dem Hund. Und bald mochte der Hund auch den kräftigen Benjamin und ließ sich von ihm wie ein Pelzkragen über der Schulter tragen. Innerhalb von sechs Monaten wuchs Flieger zu einem schönen, aber gewaltigen Tier heran. Und irgendwann schaffte es Benjamin nicht mehr, den Hund hochzustemmen. »Das ist ein verkleideter Esel«, stöhnte er unter dem Gewicht, fiel auf seinen Hintern, ließ den Hund laufen und lachte.
    »Der Esel bist du«, erwiderte Salman, »mein Flieger ist ein getarnter Tiger.«
    Im Frühsommer wurde Pfarrer Jakub vom Bischof in ein Bergdorf an der Küste versetzt, nachdem er sich durch seinen Fanatismus in Damaskus unbeliebt gemacht hatte. Kurz danach und noch vor Ende des zweiten Jahres verließ Benjamin endgültig die Schule. Er arbeitete nun bei seinem Vater. Dieser war ein netter kleiner Mann mit einem Gesicht voller Narben und Furchen. Er bewunderte die Kraft seines jungen Sohnes, der ihn um einen Kopf überragte und ihn manchmal, wenn keine Kundschaft da war, mit einer Hand hochhob.
    Zwei Tage nach Benjamins Abgang verabschiedete sich auch Salman ein für alle Mal vom heiligen Nikolaus und betrat seine Schule nie wieder.
    Kein Nachbar fragte ihn, warum er nicht mehr wie die anderen Kinder zur Schule ging. Im Gnadenhof galt die Schule nicht viel. Man kämpfte um das nackte Überleben. Bei Salman schien es selbstverständlich, dass er zu Hause blieb und seine kranke Mutter betreute, die, sobald er in ihrer Nähe war, aufhörte zu weinen und zu wimmern.
    »Warum gehst du nicht mehr in die Schule?«, fragte Sarah eines Nachmittags.
    »Meine Mutter ... «, er wollte irgendetwas erfinden, aber als Sarah

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