Das Geheimnis Des Kalligraphen
anzuschreien und zu schlagen. Einmal sah Salman, der so tat, als ob er schliefe, wie der Vater den Kopf seiner Mutter streichelte und ihr leise etwas vorsang.
»Bei euch steht alles auf dem Kopf, die Frau liegt im Bett und der Mann macht sauber«, sagte Nachbar Marun, der mit seiner Frau undzehn Kindern gegenüber in zwei winzigen Zimmern lebte, als Salman die Fenster der Wohnung putzte.
»Maruns Augen schlafen«, flüsterte Sarah Salman zu, als der Nachbar weiterging, »sein Arsch aber musiziert die ganze Nacht. Ich höre ihn bis zu meiner Matratze«, fügte sie verschwörerisch leise hinzu. Marun war ein armseliger Kartenabreißer im Aida-Kino, das früher einmal glanzvolle Zeiten erlebt hatte, nun aber heruntergekommen war und nur noch alte Filme zeigte. Der Eintritt kostete zwanzig Piaster und entsprechend sah es im Saal und auf der Leinwand aus. Salman hatte genug über das stinkende Loch gehört, um es nie in seinem Leben zu betreten. Das Kino wimmelte nur so von Männern, die nach den Hintern der Jungen griffen, und von hungrigen und streitsüchtigen, oft betrunkenen Burschen. Marun kam manchmal mit einem blauen Auge oder einer zerrissenen Jacke nach Hause. Seine Frau Madiha war eine intelligente und schöne kleine Frau. Sie hielt ihm täglich vor, wen sie hätte heiraten können, wenn sie nicht den Fehler ihres Lebens begangen hätte, ihn einmal zu erhören.
»Aber sie scheint aus ihrem Fehler nichts gelernt zu haben«, lästerte Sarah. Jedes Jahr zu Ostern gebar Madiha ein Kind. Doch keines der Kinder hatte auch nur einen Funken der Schönheit und Klugheit der Mutter. Alle schauten einen mit dem dummen Gesicht ihres Vaters an, der geistesabwesend die Karten am Eingang des Kinos entgegennahm, ein Stück davon abriss und den Rest dem Kinobesucher zurückgab, ohne ihn anzuschauen. Die Kinder waren dauernd am Kauen. »Die haben keinen Hunger, sie sind der Hunger«, sagte Faise, Sarahs Mutter.
Salman suchte verzweifelt nach Arbeit. Sein Tag wurde lang, denn Sarah kam erst am Nachmittag von der Ganztagsschule. Und die andauernde Leere in seiner Tasche störte ihn noch mehr als die Langeweile. Sein Vater ließ bei der Nachbarin Faise nur genau so viel Geld, wie diese für Lebensmittel brauchte.
Auch weil er seinem Vater entkommen wollte, der die Mutter nach der Rückkehr etwas besser, ihn dagegen noch schlimmer behandelte, suchte Salman eine Stelle. Er wollte diesen schmutzigen großen Mannmit dem dunklen, selten rasierten Gesicht nicht mehr sehen. Er wollte sein Geschrei nicht mehr hören: »Steh auf, du fauler Unglückshund!« Und er wollte seine Tritte nicht mehr spüren, die ihn trafen, wenn ihn der Schlaf daran hinderte, den Ernst der Lage sofort zu verstehen.
Salman beneidete die Kinder der Nachbarn, die jeden Morgen von ihren Eltern und Verwandten mit einem Singsang in allen Tonlagen verabschiedet wurden, und er antwortete in seinem Herzen auf jede Begrüßung, die aus dem Hof zu ihm drang. Aber er bemitleidete sie auch, weil sie noch in die Sankt-Nikolaus-Schule gehen mussten. Nur einer ging nicht mehr und ihn bewunderte Salman, weil er bereits einen Beruf hatte und von allen wie ein Erwachsener mit Respekt behandelt wurde: Said.
Said war Waise. Seit dem Tod seiner Eltern bei einem Busunglück lebte er bei der alten Witwe Lucia. Sie bewohnte eine kleine Wohnung genau gegenüber dem Toreingang zwischen dem Bäckergesellen Barakat und der großen Gemeinschaftsküche. Die Witwe übernahm Said, da sie kinderlos war und die katholische Kirche für das Kind zahlte, dessen Vater jahrzehntelang als Hausmeister in der katholischen Eliteschule gearbeitet hatte. Sie lag in unmittelbarer Nähe der Sankt-Nikolaus-Schule und war für die Söhne der reichen Christen reserviert.
Said war gleich alt wie Salman, hübsch wie die Töchter des Bäckergesellen und etwas beschränkt wie Maruns Kinder. Nach dem Tod seiner Eltern – er war damals in der vierten Klasse – wollte er keinen Tag länger in der Schule bleiben und arbeitete in einem Hammam nahe Bab Tuma als Gehilfe. Lohn gab es nicht, aber die paar Piaster Trinkgeld, die Said bekam, wenn die Männer mit ihm zufrieden waren, gab er seiner Pflegemutter. Dann war auch sie zufrieden mit ihm.
Wenn Salman Said bat, seinen Chef zu fragen, ob sie im Hammam nicht noch einen Jungen brauchen könnten, tat Said so überrascht, als würde er die Bitte zum ersten Mal hören. Es dauerte ein Jahr, bis Said ihm ausrichtete, sein Chef wolle ihn einmal sehen. An diesem Tag
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