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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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buntem Papier. Ihre Drachen waren viel schöner als die, die man beim Krämer Abdo kaufen konnte. Sie ließ bei jedem Ausflug Drachen fliegen und war immer inmitten einer Traube aus Jungen, die alle bettelten, einmal an der Schnur ziehen zu dürfen, um mit dem Drachen schöne Schleifen am Himmel zu malen.
    Ihre Mutter war entsetzt und genierte sich, weil Drachenfliegen ein Spiel für Jungen und nicht für Mädchen war. Ihr Vater lachte nur darüber, doch als sie zehn wurde, verbot er es ihr.
    »Du bist jetzt eine junge Dame, und eine Dame braucht keinen Papierdrachen«, sagte er.
    Aber noch leidenschaftlicher, als Blumen zu züchten oder Drachen zu basteln, kochte die Großmutter Marmelade. Sie bereitete nicht nur die in Damaskus gängigen Aprikosen-, Zwetschgen- und Quittenmarmeladen zu, sondern machte aus allem, was ihr in die Hände kam, ein Mus: Rosen, Orangen, Pomeranzen, Kräuter, Trauben, Feigen, Datteln, Äpfel, Mirabellen und Kaktusfeigen. »Mit Marmeladen versüßt du die Zunge von Freund und Feind, so dass sie weniger Saures über dich sagen«, behauptete sie.
    Eines Tages suchte Nura den Großvater, um ihm stolz ihr neues Kleid zu zeigen, doch sie fand ihn nirgends. Plötzlich dachte sie an den Spruch ihrer Mutter, die keine einzige Marmelade ihrer Schwiegermutter anrührte und ihrer Nachbarin Badia anvertraut hatte, die Oma sei eine Hexe, sie habe den Verdacht, sie mache sogar aus Fröschen, Schlangen und Spinnen Marmeladen.
    »Wo ist Großvater?«, fragte Nura argwöhnisch. »Hast du vielleicht Marmelade aus ihm gekocht?«
    Die Großmutter lächelte. »Nein, er ist auf eine weite Reise gegangen«, antwortete sie und eilte in die Küche. Als Nura ihr folgte, sah sie, dass die Großmutter elend weinte. Und auch später noch konnte sienicht verstehen, dass der Tod ihren Großvater so leise geholt hatte, dass es ihr entgangen war.
     
    Spätestens mit zehn Jahren hatte Nura jedwede Hoffnung auf ein Spiel mit den Nachbarskindern aufgegeben. Wie harmlos sie alle waren! Aber sie hätte nicht einmal mit ihnen spielen können, weil ständig die Mutter nach ihr rief.
    So begann sie sich für Bücher zu interessieren. Und wenn der Vater von der Moschee kam, las er ihr vor, was sie sich wünschte. Und dann zeigte er ihr eines Tages, wie man die Buchstaben schreibt. Er war überrascht, wie schnell sie Lesen und Schreiben lernte. Sie verschlang alles und betrachtete alle Bilder, die in den Büchern der großen Bibliothek ihres Vaters zu finden waren. Und eines Tages überraschte sie ihren Vater mit einem Gedicht, das sie auswendig gelernt hatte, einem Lob auf die Schöpfung. Das überwältigte ihn so, dass er anfing zu weinen. »Von so einem Kind habe ich immer geträumt. Gott ist gnädig mit mir«, sagte er und küsste sie und kratzte dabei ihre Wange mit seinem Stoppelbart.
    Bis dahin hatte die Mutter, immer wenn Nura zur Mansarde hinaufging, gejammert: »Was braucht ein Mädchen all diese staubigen Bücher?«
    Als aber ihr Mann Nuras Liebe zu Büchern als »Gnade Gottes« bezeichnete, wagte sie es nicht mehr, darüber zu spotten.
    Nura las langsam, nuanciert und laut. Sie fühlte die Wörter auf der Zunge und hörte, wie jedes Wort, das sie las, seine eigene Melodie besaß. Mit den Jahren entwickelte sie ein Gefühl dafür, wie jedes Wort ausgesprochen werden musste, damit es gut klang. So konnte sie, wenn man ihrem Vater Glauben schenkte, bereits vor dem Eintritt in die Schule Koranzitate und Gedichte besser als ein Fünftklässler vortragen.
    Nura zählte die Tage des Sommers, die sie noch von der Schule trennten, wie ein Gefangener die letzten Tage vor der ersehnten Freilassung zählt.
    Nun gab es damals in ganz Damaskus nur ein paar wenige Mädchenschulen. Die besten waren die der Christen, und nicht weit von Nuras Haus war eine sehr vornehme Schule, die von Nonnen geführtwurde. Aber die Mutter drohte, das Haus zu verlassen oder sich umzubringen, wenn die Tochter zu den Ungläubigen geschickt würde. Der Vater geriet außer sich, es gab Tränen und viel Lärm, und schließlich einigte man sich auf die beste muslimische Schule, die weit entfernt im vornehmen Suk-Saruja-Viertel lag.
    Im August also war es beschlossene Sache, dass sie diese Schule besuchen sollte. Und dann kam die größte Überraschung.
    Eines Tages verkündete ihr Vater fröhlich, sein guter und sehr gläubiger Freund Mahmud Humsi habe ihm in der Moschee gesagt, auch seine Tochter Nadia würde in diese gute Schule im Suk-Saruja-Viertel gehen

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