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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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zwei Frauen den Kopf des Jungen mit einem Blumenkranz und schenkten ihm Geld. Aber er sah trotzdem elend aus. Alle jubelten ihm zu. Nura streichelte ihm die Hand, als er an ihr vorbei in ein ruhigeres Zimmer im ersten Stock getragen wurde. Der Junge schaute sie mit matten Augen an und ein schwaches Lächeln streifte seinen Mund.
     
    Nur am ersten Tag begleitete Nuras Mutter die zwei Mädchen zur Schule, vom zweiten Tag an fuhren sie allein. Nadia saß immer still und starrte unbeteiligt auf die Straßen, durch die die Straßenbahn fuhr. Nura hingegen erlebte fast täglich ein Abenteuer.
    Nadia war ein stilles, etwas dickliches Mädchen mit rotem Haar. Sie mochte weder Schule noch Bücher. Sie wollte am liebsten schon mit sieben heiraten und dreißig Kinder bekommen. Auch wollte sie nie mitspielen. Sie fand alles, was die Mädchen in der Nachbarschaft und in der Schule spielten, kindisch. Nura dagegen spielte, wann und wo immer sie nur konnte.
    Neben Seilspringen mochte Nura zwei Spiele besonders. Das eine war Verstecken. Ihr Vater war der Ansicht, Adam und Eva seien die ersten gewesen, die es gespielt hätten, als sie sich vor Gott versteckten, nachdem sie von der verbotenen Frucht genascht hatten.
    Wenn Nura sich versteckte, stellte sie sich vor, sie wäre Eva und der Suchende niemand anderer als Gott.
    Das zweite Spiel, das sie mochte, hatte Hanan erfunden, eine sehr kluge Klassenkameradin. Zwei Schülerinnen standen einander gegenüber, die eine verteidigte die Frauen und die andere die Männer.
    Die eine zählte alles auf, was schlecht, böse und maskulin war, und die andere konterte jeden Satz mit dem femininen Pendant.
    »Der Teufel ist ein Mann und auch der Sarg«, fing die erste an.
    »Und die Sünde ist eine Frau und auch die Pest«, erwiderte die zweite.
    »Der Arsch ist ein Mann und auch der Furz«, sagte die erste leise, und die umstehenden Schülerinnen kicherten.
    »Und die Hölle ist eine Frau und auch die Ratte«, erwiderte die andere. Das ging so lange, bis eine einen Fehler machte oder nicht schnell genug erwidern konnte. Das hatte ein drittes Mädchen, das man Richterin nannte, zu entscheiden. Verging eine längere Zeit, ohne dass eine der beiden siegte, hob die Richterin ihre Hand und drehte die Handfläche nach links und nach rechts als Signal des Wechsels. Jetzt galt es, nur das Schönste, Edelste und Beste aufzuzählen.
    »Der Himmel ist ein Mann und auch der Stern«, rief die erste.
    »Und die Tugend ist eine Frau und auch die Sonne«, und so weiter, bis eine siegte oder die Richterin wieder mit ihrer rechten Hand hochschnellte und sie drehte, um Frau und Mann in düsteren Farben malen zu lassen.
    Nadia fand an all dem keine Freude. Mit Anstrengung schleppte sie sich bis zum Ende der fünften Klasse, dann schied sie aus, wurde immer dicker und heiratete mit sechzehn ihren Cousin, einen Rechtsanwalt, der von dem vielen Brautgeld, das der reiche Schwiegervater bezahlte, seine moderne Kanzlei einrichten konnte. Nadia, das hörte Nura später von den Nachbarn, bekam keine Kinder. Aber ihr Mann wollte sich deswegen nicht von ihr trennen, wie das damals Sitte war. Er liebte sie.
    Nura fuhr von der sechsten Klasse an allein und merkte bald, dass sie Nadia nicht einmal vermisste.
     
    Sie mochte den Schaffner in seiner schönen grauen Uniform und sein Billettkästchen. Der Kontrolleur, der einmal in der Woche kam undhöflich nach den Fahrkarten fragte, trug eine dunkelblaue Uniform. Er sah wie ein König aus, trug an jeder Hand Goldringe, und Nura hielt ihn lange für den Besitzer der Straßenbahn.
    Zwei Haltestellen weiter stieg täglich ein alter Herr in schwarzem Anzug ein. Er war über siebzig und hatte eine edle Gestalt, war groß und schlank, immer elegant und sauber gekleidet und trug einen feinen Spazierstock mit silbernem Knauf. Bald erfuhr Nura, warum weder der Schaffner noch der Kontrolleur je verlangten, dass Baron Gregor eine Fahrkarte kaufte. Er war verrückt. Er glaubte felsenfest, dass er bis auf eines Salomons Geheimnisse kennen würde, und wenn er dieses eine Geheimnis aufbräche, würde er der König der Welt werden. Bis dahin jedoch dürfe ihn jeder Baron nennen. Er war Armenier, hatte eine Frau und einen Sohn, der in Damaskus bereits ein berühmter Goldschmied und Uhrmacher war.
    Der Baron lief den ganzen Tag durch die Stadt und verteilte mit seinem Segen die Posten der Welt, die er später regieren würde, an die Passanten und Fahrgäste. Wenn sich jemand heuchelnd vor ihm

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