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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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und mit der Straßenbahn dorthin fahren.
    Nuras Mutter fiel fast in Ohnmacht. Sie weinte und beschuldigte ihren Mann, leichtsinnig mit dem Leben seiner Tochter zu spielen. Er vertraue das Leben eines zarten Mädchens diesem fahrenden Eisenmonster an. Was, wenn jemand sie entführte, wo sie so schön war?
    »Die Straßenbahn kann keiner entführen, sie fährt immer auf denselben Gleisen, und die Nummer 72 hat eine Haltestelle auf der Hauptstraße, nur fünfundzwanzig Schritte von unserer Haustür und genauso weit entfernt vom Haus meines Freundes Humsi.«
    Nura hätte fliegen können, so leicht und glücklich fühlte sie sich. Am Abend gingen sie zum Beschneidungsfest bei der reichen Familie Humsi. Nura sollte dort ihre künftige Mitschülerin Nadia kennenlernen.
    Das Haus war voller Gäste. Nura hielt die Hand ihrer Mutter sehr fest. Dauernd wurde ihr von Leuten, die sie nicht kannte, über Wangen und Kopf gestreichelt. Nur die fette Nachbarin Badia und deren Mann waren ihr vertraut.
    In ihrem roten Samtkleid sah Nadia wie eine Prinzessin aus. Sie nahm Nura bei der Hand und zog sie durch die Menge zu einer Ecke, wo Süßigkeiten zu großen Pyramiden aufgetürmt waren. »Nimm dir, bald lassen die Erwachsenen nur noch Brösel übrig«, sagte sie und zog eine mit Pistazien gefüllte Teigrolle aus einer der Pyramiden.
    Nura war aufgeregt. So viele Menschen und ein so großes Haus hatte sie bis dahin noch nie gesehen. Alle waren fröhlich, es herrschte feierliche Stimmung. Nura hörte an diesem Tag zum ersten Malvom Tuhur -Fest, dem rituellen Beschneidungsfest. Nadia erklärte ihr knapp, da würde ihr Bruder zum richtigen reinen Muslim.
    Die Tische bogen sich unter dem Gewicht der Leckereien, als hätten die Gastgeber Angst, dass die Gäste vor Hunger sterben könnten. Nura fühlte bald großen Appetit beim Anblick dieser Pyramiden von süßen Blätterteigtaschen mit Nuss und Zucker, doch sie war schüchtern und fasste nichts an, während Nadia ein Stück nach dem anderen in sich hineinstopfte.
    Plötzlich machte sich Unruhe breit, und einige Frauen tuschelten aufgeregt: »Er kommt, er kommt.« Da erblickte Nura den Friseur Salih, der seinen Laden auf der Hauptstraße hatte, nicht weit von Elias’ Laden für Süßigkeiten. Er war ein hagerer großer Mann, immer gut rasiert, die Haare geölt und nach hinten gekämmt. Er trug stets einen weißen Kittel und hatte fünf Kanarienvögel, die wie eine Kapelle zusammen trillerten. Manchmal, wenn er keine Kunden hatte, sah Nura ihn den Dirigenten mimen.
    Herr Salih erwiderte durch vornehmes Nicken den Gruß der Männer. Mit dem Koffer in der rechten Hand ging er auf das Ende des geschmückten Innenhofs zu. In diesem Augenblick erblickte Nura den blassen Jungen in den bunten Kleidern. Viele Kinder bahnten sich den Weg zu ihm. Er war nicht viel älter als sie.
    »Du bleibst hier«, hörte Nura die Mutter rufen, als sie mit Nadia durch die Reihen der Erwachsenen schlüpfte, die respektvoll Abstand voneinander hielten, aber sie war schon bald in der ersten Reihe angekommen.
    Ein Mann, wahrscheinlich ein Onkel, bat die Kinder, den Kreis zu erweitern, damit sie den Friseur nicht bei seiner Arbeit störten.
    »Hab keine Angst«, sagte der Friseur, »ich will nur sehen, wie groß du bist, damit ich dir Hemd und Hose schneidern kann.«
    »Warum schneidert ein Friseur Hemd und Hose. Warum nicht Dalia, die Schneiderin?«, fragte Nura Nadia. Diese hörte ihre Frage nicht, sondern beobachtete aufmerksam den Mann, der nun vom Friseur aufgefordert wurde, Maß für die Schuhe zu nehmen. Es war derselbe Mann, der den Kreis um den Jungen und den Friseur vergrößert hatte. Er trat von hinten auf den Jungen zu und packte seine Beine undArme, so dass sich der Junge – der nun zu weinen begann – nicht mehr bewegen konnte. Die Erwachsenen begannen wie auf Anweisung eines Chorleiters laut zu singen und dabei laut zu klatschen, so dass niemand die jetzt einsetzenden Hilferufe des Jungen hören konnte. Nur Nura hörte ihn nach seiner Mama rufen.
    Der Friseur zog ein scharfes Messer aus seinem Koffer. Ein Junge neben Nura stöhnte und legte seine Hände auf seinen Schoß, als würde ihn da etwas schmerzen, und verkroch sich in die hinteren Reihen. Was genau geschnitten wurde, konnte Nura nicht sehen, aber Nadias Bruder weinte erbärmlich. Als sie um sich schaute, waren nur noch sie und ein anderer blasser Junge in der ersten Reihe.
    Auch Nadia hatte sich nach hinten zurückgezogen.
    Nun schmückten

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