Das Geheimnis Des Kalligraphen
Salman das Licht anmachte, entdeckte er, dass die Fotos alle eine Person zeigten: Badri, den Friseur und Bodybuilder, der oft ins Café kam und den Tisch allein für seine Muskeln beanspruchte.
Dieser Mann war auf den Fotos in allen möglichen Posen zu sehen, grinsend und übertrieben ernst, angekleidet und in einem knappen Badehöschen, mit und ohne Pokal in der Hand. Der Muskelmann trainierte täglich hart in einem Bodybuilder-Club und stellte ständig seine Figur zur Schau. Brust, Arme und Beine waren glatt rasiert wie die der Frauen. Seine Haut war braun gebrannt und sein Blick dämlich.
Täglich hatte Salman Unterricht bei Sarah, danach brachte er Flieger die Fleischreste, die er für wenig Geld bei den Metzgern kaufte, und spielte mit ihm in der verlassenen Papierfabrik, bis sie beide erschöpft waren.
Salman gab Faise immer Geld, damit sie seiner Mutter etwas Leckeres kochte, denn das, was der Vater zahlte, reichte nur dafür aus, sie nicht verhungern zu lassen. Das Geld, das Salman dann noch übrigblieb, verwahrte Sarah für ihn in einem sicheren Versteck. Sie war zuverlässig, aber sie verlangte pro Monat ein großes Pistazieneis. Das nannte sie Zinsen. Erst Jahre später konnte Salman sie korrigieren und das Eis in Bankgebühren umbenennen. Aber er spendierte das Eis gerne, nicht nur, weil er Sarah und ihre Mutter liebte, sondern auch, weil er bei sich zu Hause kein Versteck hatte.
Nach fast zwei Jahren hatte Salman so viel Geld gespart, dass er seiner Mutter eine Überraschung machen konnte. Seit seiner frühen Kindheit hatte sie die verrückte Angewohnheit, kurz vor Ostern zu ihm zu sagen: »Komm, Salman, wir gehen wie die vornehmen Leute Kleider für Ostern kaufen.«
Damals, als er noch klein war, fiel er darauf herein. Er dachte, sein Vater hätte ihr wohl Geld gegeben. Er wusch sein Gesicht, kämmte sich und ging mit ihr zum Suk al Hamidije, wo es viele Geschäfte gab, die feine Kleider im Schaufenster zeigten.
Salman freute sich, da seine Schuhe, die er den Winter über getragen hatte, unten durchlöchert und aufgeweicht und oben knochenhart waren. Die Schuhe der Armen seien als Foltergeräte gedacht, damit sie ihre Sünden sühnen und nach dem Tod in den Himmel kommen würden, sagte Mahmud, der Laufbursche der nahe gelegenen Bäckerei, wenn er auf seine Schuhe klopfte, die ihm die Füße blutig scheuerten. Das Leder klang hölzern.
Diese Sehnsucht nach besseren Schuhen ließ Salman Jahr für Jahr hoffen. So wanderte er mit seiner Mutter durch den Suk. Sie hielt vor den bunten Schaufenstern an, schien sich zu vergessen beim Anblick eines Kleides, gab begeisterte Laute von sich, und wenn sie einen Kinderanzug oder ein paar Schuhe sah, musterte sie Salman, als wollte sie Maß nehmen oder prüfen, ob die Farbe zu ihm passen würde, nur um dann doch weiterzugehen. Nach einer Stunde wurde Salman müde.
»Mutter, wann gehen wir hinein?«
»Hinein? Warum denn?«
»Um Schuhe für mich und ein Kleid für dich zu kaufen.« »Ach Kind, und woher soll ich das Geld nehmen?«
Er schaute sie entsetzt an. »Mach doch nicht so ein dummes Gesicht«, sagte sie mit unschuldiger Miene, »betrachte die Kleider undstell dir vor, wie du in diesen Herrlichkeiten herumwanderst«, sagte sie und ging nun mit schnellen Schritten durch den Markt.
Eine Woche vor Ostern lud Salman seine Mutter zum Suk al Hamidije ein, und sie lachte viel auf dem Weg dorthin. Und dann sah sie in einem Geschäft ein wunderschönes Kleid, und Salman fragte sie scheinheilig, ob es ihr gefalle. Sie schaute ihn mit verklärten Augen an: »Gefallen? Ich wäre eine Prinzessin in diesem Kleid«, sagte sie.
»Dann gehört es dir. Du sollst es probieren und mit dem Händler feilschen, das Geld habe ich«, sagte Salman tapfer, obwohl ihm fast die Stimme versagte.
»Und du machst keinen Scherz?«, fragte die Mutter unsicher.
Salman zog seine Hand aus der Hosentasche. Die Mutter machte Augen, als sie die zwei blauen Hundertlira- und mehrere Zehnerscheine sah. »Das habe ich alles für dich gespart, damit du endlich einmal eine Prinzessin bist«, sagte er. »Auch Schuhe sollst du dir heute kaufen, und ich will eine neue Hose, ein Hemd und ein paar Lackschuhe. Ich habe alles berechnet. Hundertneunzig bis zweihundert Lira, wenn wir gut handeln«, fügte er hinzu.
Die Mutter war trotz ihrer Hinfälligkeit eine exzellente Händlerin. Am Abend kehrten sie schwer beladen heim, und Salman hatte immer noch dreißig Lira in der Hosentasche. Ein paar
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