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Das Geheimnis Des Kalligraphen

Das Geheimnis Des Kalligraphen

Titel: Das Geheimnis Des Kalligraphen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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auf den Beinen stehen. Er flüsterte immer wieder: »Hab keine Angst. Es ist harmlos.«
    Einmal fragte er sie, ob sie ihn liebe und auf ihn warten werde, bis er seine Ausbildung als Friseur beendet habe. Dann werde er sie heiraten und hier im Viertel einen Friseursalon eröffnen, »einen supermodernen Salon«, betonte er.
    Sie war entsetzt über die Frage. Sie sei nicht nur bereit zu warten, sondern für ihn zu sterben, beteuerte sie. Er lachte, das höre sich nach ägyptischen Schnulzen an, lieber solle sie am Leben bleiben und den nächsten Heiratsantrag ablehnen. Sie sei nämlich so schön, und solche Mädchen hätten keine lange Haltbarkeit.
    Wie konnte sie ihn von ihrer unendlichen Liebe überzeugen? Sie wolle in der Nacht zu ihm kommen, eröffnete sie ihm, ihr sei jede Gefahr gleichgültig.
    Er glaubte ihr nicht. Sie solle nicht angeben, sagte er väterlich.
    Das kränkte Nura. »Heute Nacht, wenn die Uhr der Kirche nach Mitternacht einmal schlägt, bin ich auf dem Dach deines Hauses.«
    Er sagte, sie sei ein verrücktes Mädchen, aber wenn sie käme, würde er sie oben auf dem Flachdach lieben.
    »Ich bin nicht verrückt«, antwortete sie, »ich liebe dich.«
    Es war nicht schwer, man musste nur einen Spalt überspringen. Es war eiskalt, aber sie fühlte eine innere Wärme und sehnte sich danach, ihn an sich zu drücken.
    Er war nicht da. Sie konnte es nicht verstehen. Er musste doch nur die Treppe vom ersten Stock, wo sein Schlafzimmer lag, zum eigenen Dach hinaufsteigen. Sie wartete neben den dunkel gestrichenen Wasserfässern, in denen sich tagsüber das Wasser unter der sengenden Sonne wärmte. Sie drückte sich an den warmen Behälter und wartete.
    Murad kam nicht. Die Zeit kroch dahin. Und jede Viertelstunde, die von der Turmuhr mit einem Glockenschlag verabschiedet wurde, erschien ihr wie eine Ewigkeit.
    Erst als die Kirchturmuhr zweimal schlug, stand sie auf. Ihre Knie schmerzten und ihre Hände froren. Der Wind blies stark und eiskalt in jener Märznacht. Sie sah Murads Schatten am Fenster seines Schlafzimmers. Er winkte, und sie dachte, er winke ihr zu, ihr Herz wollte zu ihm, doch dann erkannte sie, dass sein Winken nur bedeutete, sie solle weggehen. Eine bedrückende Dunkelheit fiel plötzlich über sie. Ihre nackten Füße wurden schwerer als Blei. Sie schlich über das Dach zurück und stand plötzlich vor dem riesengroßen Abgrund, der sie vom Flachdach ihres Hauses trennte. Sie sah hinunter, irgendwo in der unendlichen Tiefe des Hofes flackerte eine schwache Lampe.
    Sie fing an zu weinen und wollte springen, doch gleichzeitig war sie vor Angst wie gelähmt.
    Man fand sie am nächsten Morgen, ein Häuflein Elend, und brachtesie nach Hause. Ihre Mutter begann laut zu weinen: »Was sollen die Menschen von uns denken, Kind? Was sollen die Menschen von uns denken?«
    Sie rief und jammerte so lange, bis der Vater sie anknurrte: »Hör doch auf zu winseln! Was soll einer schon denken, wenn ein Mädchen Fieber hat und nachtwandelt?«
    »Was auch immer der Grund war, deine Tochter gehört so schnell wie möglich in die Obhut eines starken Ehemannes«, sagte ihre Mutter. Ihr Vater gab zu Bedenken, dass Nura zu jung sei, aber als die Mutter ihm sagte, er habe sie mit siebzehn auch nicht für zu jung befunden, stimmte er zu.
    Zwei Wochen später sah Nura Murad wieder. Er war blass und lächelte ihr zu. Doch als er sie fragte, ob er zwei Zwiebeln für seine Mutter borgen könne, spuckte sie ihn nur voller Verachtung an. »Du bist eine Verrückte«, sagte er erschrocken, »eine Verrückte bist du.«
     
    9.
     
    A uch Jahre später konnte sich Salman an alle Einzelheiten dieses Vormittags erinnern. Es war kurz vor Ostern. Benjamin brachte an diesem Morgen wie immer zwei Falafelbrote und zum ersten Mal Zigaretten mit. Sie gingen mit Flieger bis zum Fluss und dort zündete Benjamin die erste Zigarette an, nahm ein paar heftige Züge, hustete und spuckte und gab die Zigarette an Salman weiter. Salman zog den Rauch ein und hustete, dass ihm die Augen hervorquollen. Er hatte das Gefühl, dass seine Innereien hinauswollten. Flieger schaute ihn misstrauisch an und winselte.
    »Nein, das ist nichts für mich. Das riecht nach meinem Vater«, sagte er und gab seinem Freund die Zigarette zurück.
    »Wie willst du dann ein Mann werden?«, fragte Benjamin.
    »Weiß ich doch nicht, aber rauchen will ich jedenfalls nicht«, antwortete Salman und hustete weiter. Er hob einen kleinen Ast vom Bodenauf und warf ihn in den

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