Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
dem Gedanken an die Familie Wayne wurde Antonia plötzlich unruhig.
Sie konnte nicht mehr länger im Bett bleiben, sondern brauchte dringend Bewegung. Mit einem einzigen Satz sprang sie auf und kleidete sich hastig an. Sie wusch sich nicht, wie sie es sonst morgens zu tun pflegte. Sie wollte noch ein wenig nach ihm riechen. Es drängte sie in die warme Sommerluft hinaus. Sie hatte sich für ein luftiges Kleid entschieden und hüpfte übermütig wie ein Kind die Treppen hinunter. Als sie die Rezeption erreichte, hatte sie das Gefühl, ihr Herzschlag müsse aussetzen. James war gerade dabei, sein Hotelzimmer zu bezahlen. Ihr erster Impuls war, sich in seine Arme zu stürzen, als sie sich sogleich ihrer prekären Lage bewusst wurde. Sie war seine Geliebte, nicht seine Frau! Niemals würde sie sich in der Öffentlichkeit unbeschwert in seine Arme werfen oder auch nur seine Hand nehmen können.
Ihre überbordende Freude bekam durch diese schlichte Erkenntnis einen schweren Dämpfer. Unbemerkt schlich sie hinter seinem Rücken zum Ausgang.
Es war ein herrlicher Tag, und sie beschloss, einen langen Spaziergang zu unternehmen, bevor Professor Evans sie abholte, um mit ihr zur Universität zu fahren. Sie hatte sich noch keine drei Schritte vom Hotel entfernt, als sich ihr ein Mann in den Weg stellte. Erschrocken blickte sie ihn an. Es war Charles Wayne.
»Was machen Sie denn hier?«, fragte er sie unfreundlich.
»Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube, das geht Sie gar nichts an«, erwiderte Antonia rasch. Nur keine Unsicherheit zeigen, redete sie sich gut zu.
»Das sehe ich aber anders. Es gibt mir sehr wohl zu denken, dass Sie aus dem Hotel spazieren, in dem mein Schwiegersohn wohnt.«
»Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig«, entgegnete sie in scharfem Ton, bevor sie einfach an ihm vorbeiging und ihren Weg scheinbar unbeirrt fortsetzte.
»Ich gebe Ihnen einen guten Rat. Finger weg von James!«, schrie er ihr hinterher.
Antonias Herz pochte so heftig, dass sie kaum Luft bekam. Sie beschleunigte ihren Schritt und war froh, als sie sich in einen Park flüchten konnte. Dort setzte sie sich auf eine Bank und rang nach Luft.
Was ihr vor nicht einmal einer halben Stunde wie eine süße Verheißung erschienen war, entpuppte sich nun als Albtraum. An die Konsequenzen ihres Handelns hatte sie weder heute Nacht noch am Morgen in seinen Armen gedacht. Aber jetzt wusste sie eines sicher: Sie war nicht dazu geschaffen, seine heimliche Geliebte zu sein!
Oamaru, eine Woche Später, Dezember 1918
Im Haus war alles still. Seufzend stellte Antonia ihren Koffer in der Diele ab und lauschte. Es war eine unheimliche Stille, die da über der Festung des Todes lag. Vielleicht schlief ihre Mutter und Harata war drüben bei Peter im Haus. Und es war ihr gar nicht so unlieb, dass keiner sie mit Fragen nach der Reise überfiel. Was hätte sie auch sagen sollen? Ich bin die Geliebte von James Henson geworden, der Professor möchte mit mir arbeiten und liegt mir arg in den Ohren, ob ich nicht nach Dunedin ziehen könnte, um bei ihm zu studieren? Nein, das würde sie alles schön für sich behalten müssen.
Antonia wollte gerade die Treppen nach oben steigen, als sie ein leises Schluchzen vernahm. Es drang aus dem Zimmer, in dem Harata übernachtete, wenn sie, Antonia, außer Haus war. Damit Selma nicht allein war. Ansonsten lebte sie mit ihrem Mann in einem eigenen Haus.
Der Schreck fuhr Antonia durch alle Glieder, und sie riss, ohne zu klopfen, die Tür auf. Das Bild, das sich ihr dort bot, ließ sie schwanken. Sie schaffte es gerade noch, einen rettenden Stuhl zu erreichen.
»Nein!«, schrie sie. »Lieber Gott, nein!«
Peter sah sie aus verweinten Augen verzweifelt an. Antonia aber starrte ungläubig auf das Bett. Dort lag Harata in ihrem schönsten Kleid, die Augen geschlossen und ihre hellbraune ebenmäßige Haut blauschwarz verfärbt.
Ihre beste Freundin war tot.
»Was ... was ist passiert?«, stammelte sie.
»Ich bin schuld«, stöhnte Peter. »Auf dem Schiff müssen Soldaten gewesen sein, die an der Flu erkrankt waren. Ich habe ein wenig gehustet, aber das war alles. Doch Harata ...« Ein lautes Schluchzen hinderte ihn am Weitersprechen. »Sie sagen, die flandrische Grippe erwischt die Maori besonders schlimm. Schon kurz nach meiner Rückkehr hatte sie Fieber. Dann kam der schreckliche Husten hinzu, sie blutete aus der Nase, dann verfärbte sich ihre Haut, und heute Morgen ist sie in meinen Armen
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