Das Geheimnis des letzten Moa: Neuseelandsaga (German Edition)
eine dunklere Haut als die anderen Kinder? Dann kann ich ihm immer noch erzählen, dass er eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft war, an dessen Namen ich mich nicht einmal erinnere, versuchte sich Grace einzureden.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, durchlief ein Zittern ihren ganzen Körper. In diesem Augenblick erkannte sie, dass sie gerade dabei war, sich etwas vorzumachen. Solche Lügen würden ihr nicht mehr über die Lippen kommen, nach allem, was sie über ihre wahren Wurzeln hatte erfahren müssen. Nein, sie, Grace, konnte es nur besser machen als ihre Ururgroßmutter Selma, ihre Urgroßmutter Antonia und ihre Mutter Deborah. Sie wusste nur noch nicht, wie.
Dunedin, September 1970
Ein Zusammentreffen mit Debbie, Sean und ihr war nun unvermeidbar geworden. Suzan hätte schlecht der Beerdigung ihrer eigenen Mutter fernbleiben können, nur weil sie ihrer Schwester und deren Mann nicht begegnen wollte.
Und dennoch, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, hatte sie wesentlich mehr mitgenommen als befürchtet. Er hatte sich kaum verändert, wenn sie von seinen traurigen Augen absah. Dort spiegelte sich wieder, wie unglücklich er war. Er hatte an dem Tag kaum geredet, während Debbie bei dem anschließenden Essen wie ein Wasserfall geplaudert hatte. Sie war noch exzentrischer geworden.
Zum Glück kann ich nach der Testamentseröffnung nach Wellington zurück und muss mir das Elend nicht von Nahem ansehen, dachte Suzan und stellte mit einem Seitenblick auf ihre Schwester fest, dass Debbie nervös an ihren Fingernägeln kaute. Wahrscheinlich hofft sie auf den größeren Teil des Erbes, weil sie sich schließlich all die Jahre um Mutter gekümmert hat, vermutete Suzan.
Ihr hingegen war es völlig gleichgültig, was sie erbte. Sie hatte eine gut dotierte Stellung an der Viktoria-Universität von Wellington. Sie hatte nur an einem Interesse: an der Sammlung. Die wollte sie nun endlich nach Wellington transportieren lassen. Deshalb hörte sie auch nur mit halbem Ohr zu, als der Testamentsvollstrecker aufzählte, welche Schmuckstücke und welche Gelder Debbie erben würde.
Ihre Gedanken schweiften zu dem Zettel ab, den Sean ihr am Tag der Beerdigung heimlich zugesteckt hatte. Der Text war kurz und knapp, aber er ließ ihr Herz merkbar höher schlagen. Ich muss dich dringend sprechen. Bitte ruf mich im Büro an. S.
Seit Suzan diesen Zettel bei sich trug, zermarterte sie sich das Hirn mit der Frage, ob sie seiner Bitte folgen sollte oder nicht. Der Ellenbogen ihrer Schwester, den diese ihr nun unsanft in die Seite rammte, riss Suzan aus ihren Gedanken.
»Sie hat dir doch tatsächlich das Haus vererbt. Das ist nicht fair. Wer hat sie denn gepflegt? Du oder ich?«
»Wollen Sie eine kleine Pause?«, fragte der Testamentsvollstrecker.
»Unbedingt!« Debbies Stimme bekam einen unangenehm schrillen Klang.
»Gut, aber ich verlese noch, was Ihre Frau Mutter dazu schreibt. Ich zitiere: Das Haus, liebe Suzan, sollst du bekommen, damit du dein Moa-Verlies wieder beziehen kannst. Ich wünsche mir, dass du im Haus wohnst. Meine Mutter hätte es so gewollt. Du bist ihre Nachfolgerin, eine wahre Evans.«
»Das ist ja nicht zu fassen!«, schimpfte Debbie. »Das ist mein Haus! Wie kommt sie dazu? Das nimmst du doch wohl nicht etwa an? Nun sag doch was, Suzie!«
»Meine Damen, in fünf Minuten machen wir weiter.« Mit diesen Worten zog sich der Testamentsvollstrecker diskret zurück.
Kaum hatte er den Raum verlassen, als Debbie noch einmal ausdrücklich von ihrer Schwester forderte, auf das Haus der Mutter zu verzichten.
Suzan wusste überhaupt nicht, wie ihr geschah. »Bitte, Debbie, lass mich eine Nacht darüber schlafen. Ich muss das erst einmal begreifen ...«
»Aber was willst du denn mit einem Haus in Dunedin, wenn du ohnehin nach Wellington zurückgehst?«
»Debbie, ich habe erst kürzlich ein hochinteressantes Angebot von der hiesigen Universität bekommen.«
»Das hast du bestimmt nur Sean zu verdanken.«
»Bitte, respektiere, dass ich darüber nachdenken muss ...«, stöhnte Suzan.
»Du willst uns also aus unserem eigenen Haus werfen? Das ist wirklich das Letzte!«
In diesem Augenblick kam der Testamentsvollstrecker zurück.
»Wir können weitermachen«, erklärte Suzan entschlossen und erlebte kurz darauf die zweite Überraschung an diesem Tag. Barbra hatte ihr auch noch ein Strandhaus in Oamaru vererbt, von dessen Existenz sie nur aus Erzählungen ihrer Mutter gewusst hatte. Dass es sich
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